Referendum in der Türkei „Würdet Ihr Eure Kinder in einen Bus ohne Bremsen setzen?“

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Die AKP bestimmt den Wahlkampf


Neun Monate nach dem Putschversuch gilt noch immer der Ausnahmezustand. Mehr als 113.000 Beschäftigte bei Polizei, Verwaltung und Justiz wurden entlassen oder beurlaubt. Tausende Menschen wurden festgenommen. Auch Spitzenpolitiker der HDP sitzen in Haft. Wer keine Verfassungsänderung will, hat es schwer, für ein „Nein“ zu werben. An Brücken, Moscheen, Kulturzentren und Baustellen prangt Erdogans Konterfei. Die AKP bestimmt den Wahlkampf. 55 Millionen Türken sind stimmberechtigt, fünf Prozent von ihnen leben im Ausland, allein 1,4 Millionen in Deutschland. Auch um ihre Stimme warb die AKP vehement. Dass das in Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden unerwünscht war und Auftritte von Ministern zum Teil untersagt wurden, brachte Erdogan in Rage. „Nazi-Methoden“ warf er der deutschen und der niederländischen Regierung vor.

Anfang der Woche hatte ein Sprengstoffanschlag im südosttürkischen Diyarbakir drei Menschen getötet. Einen Tag nach der schweren Explosion auf dem Gelände der örtlichen Polizei mussten die Behörden einräumen, dass es sich doch nicht um einen Unfall, sondern einen Anschlag gehandelt habe. Die Untersuchungen hätten ergeben, dass es sich um einen „Terroranschlag“ handele, sagte der türkische Innenminister Soylu dem Sender Habertürk am Mittwoch. Damit revidierte er seine Aussage vom Vortag, wonach die schwere Detonation durch die Reparatur eines Polizeifahrzeugs ausgelöst worden sei. Zuletzt war es, was Terrorattacken in dem Land angeht, ruhiger geworden. Im Dezember töteten kurdische Rebellen 39 Sicherheitskräfte und Zivilisten, die sich nach einem Fußballspiel der Istanbuler Mannschaft Besiktas in einem Park in der Nähe des Stadions aufgehalten hatten. In der Silvesternacht verschoss ein usbekischer Terrorist im Istanbuler Nachtclub „Reina“ binnen sieben Minuten 180 Kugeln und tötete 39 Menschen. Er soll zuvor aus Zentralasien eingereist und einer IS-Zelle beigetreten sein. Seit Ende Juli 2015 nahm die Gewalt im Land extrem zu, nachdem die türkische Regierung eine Waffenruhe zwischen dem Staat und der verbotenen Terrorgruppe PKK aufgekündigt hatte. Auch Deutsche kamen zu Schaden, als im Januar 2016 ein Attentäter in der Istanbuler Altstadt einen Sprengsatz neben einer Gruppe Touristen zur Explosion gebracht hatte.

Doch seit einigen Monaten herrscht – für türkische Verhältnisse – Ruhe. Selbst der Wahlkampf lief friedlich ab. Zumindest, wenn man davon absieht, dass die türkische Regierung hunderte Oppositionelle in den Monaten vor der Wahl einsperren ließ. Zehn Journalisten der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet etwa sitzen seit fast einem halben Jahr in einem Hochsicherheitsgefängnis außerhalb Istanbuls. Die beiden Ko-Vorsitzenden der prokurdischen Partei HDP müssen Haftstrafen von je fünf und zwölf Monaten absitzen. Meistens lautet der Vorwurf, die Angeklagten hätten die PKK oder eine andere terroristische Organisation unterstützt. Dazu zählt die türkische Führung auch Anhänger der Gülen-Bewegung, die weite Teile der türkischen Bevölkerung für den Putschversuch vom vergangenen Juli verantwortlich machen.

Eine Gruppe hielt sich derweil weitestgehend aus dem Wahlkampf heraus: Fußballvereine. Fikret Orman, Clubpräsident von Besiktas Istanbul, vermeidete ein Bekenntnis zu den Fans von Carsi, ließ sich aber auch sonst nicht vereinnahmen und setzte auf Neutralität: „Besiktas ist ein Sportclub, kein politischer Verein“, erklärte er vor dem Referendum. „Ich finde es nicht richtig, dass Besiktas mit politischen Themen in Verbindung gebracht wird.“

Mit seiner Zurückhaltung ist Orman unter seinen Istanbuler Amtskollegen nicht allein. Fenerbahce-Präsident Aziz Yildirim ließ ebenfalls verlauten, der Verein „sei kein Teil der Politik“, zitierte ihn die Nachrichtenagentur dpa. Für welche Möglichkeit sich Mitglieder und Anhänger Fenerbahces beim Referendum auch immer entscheiden, müsse respektiert werden.

Welche Konsequenzen es geben kann, wenn man sich in irgendeiner Form gegen die Regierung stellt, mussten hingegen die Verantwortlichen von Rekordmeister Galatasaray kürzlich erleben. Nachdem sich die Vereinsmitglieder gegen den Ausschluss der ehemaligen Spieler Hakan Sükür und Arif Erdem entschieden hatten, warnte Sportminister Akif Cagatay Kilic: „Der Galatasaray-Vorstand muss die getroffene Entscheidung dringend korrigieren.“ Sükür und Erdem sollen der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen nahestehen, die von der türkischen Regierung für den Putschversuch vom 15. Juli verantwortlich gemacht wird. Kurz darauf schloss der Verein die beiden Ex-Nationalspieler dann doch aus.

Im Gegensatz zu den Vereinen haben sich einige bekannte Fußballer vor dem Referendum klar positioniert. Der ehemalige türkische Nationalspieler und heutige TV-Experte Ridvan Dilmen startete mit einer Videoaufnahme eine Ja-Kampagne in sozialen Medien, der sich unter anderem Arda Turan und seine Nationalmannschaftskollegen Burak Yilmaz, Gökhan Töre und Hakan Calhanoglu anschlossen – „für eine starke Türkei“.

Auch der Fußballverband ist inhaltlich auf einer Linie mit der Regierung. Präsident Yildirim Demirören hielt Ende März auf einer Veranstaltung, bei der Erdogan unter den Gästen war, eine Rede. Er schloss sie mit einem klaren Bekenntnis ab: Sein Wunsch sei es, „am 17. April in einer Türkei aufzuwachen, die zu einer noch stärkeren Türkei 'Ja' sagt.“

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