Referendum in Katalonien Besetzte Wahllokale bleiben geöffnet

Der Tag der Entscheidung ist da: In Katalonien ist es den Sicherheitsbehörden bis 9 Uhr nicht gelungen, alle Wahllokale für das illegale Referendum über die Unabhängigkeit zu schließen. Noch verläuft alles gewaltfrei.

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Um kurz vor 6 Uhr warten rund 500 Separatisten vor der besetzten Schule Diputació, die als Wahllokal für das Unabhängigkeitsreferndum dienen soll. Bis 6 Uhr sollte die Polizei alle Wahllokale schließen. Quelle: Sandra Louven

Barcelona Die spanische Generalstaatsanwaltschaft hatte die katalanische Polizei angewiesen, bis zum 6 Uhr morgens alle für die Wahl vorgesehenen Wahllokale abzusperren. Doch seit der normale Schulunterricht am Freitag Nachmittag beendet wurden veranstalteten Eltern in rund 160 Schulen der Region Herbstfeste und andere Aktivitäten, um die Schließung ihrer Schule zu verhindern. 

Vor der städtischen Schule Diputació im Zentrum von Barcelona haben sich bereits seit 5 Uhr morgens Eltern und Nachbarn versammelt, um die für 6 Uhr erwartete Polizei daran zu hindern, die Schule zu schließen. Es sind rund 400 Leute, die vor den Toren ausharren. Immer wieder überfliegen Hubschrauber das Gebiet und werden von der Menge ausgepfiffen – die spanische Zentralregierung hat den Luftraum über Barcelona für die Zeit des Referendums gesperrt. 

Madrid versucht mit allen Mitteln, das Referendum zu verhindern. Es verstößt gegen die spanische Verfassung, die die Einheit des Landes vorsieht. Die katalanische Regierung fuhr jedoch unbeirrt mit den Plänen fort. Sie will innerhalb von 48 Stunden nach Auszählung der Stimmen einen neuen Staat Katalonien ausrufen, falls die Ja-Stimmen siegen. Eine Mindestwahlbeteiligung ist nicht vorgesehen. 

Die katalanische Regierung hat kurzerhand die Regeln für das Unabhängigkeitsreferendum geändert und die Stimmabgabe an einem beliebigen Wahllokal gestattet. Nachdem die Polizei viele als Wahllokal vorgesehene Räumlichkeiten abgesperrt hat, sind die Wähler am Sonntag nicht mehr an ein bestimmtes Wahllokal gebunden. Regionalregierungs-Sprecher Jordi Turull sagte, das neue System werde den 5,3 Millionen Wahlberechtigten die Stimmabgabe ermöglichen und mehrfache Stimmabgabe verhindern. Wenn nötig, könnten die Katalanen mit zuhause ausgedruckten Stimmzetteln abstimmen, sagte Turull. Es seien neue Stimmzettel gedruckt worden, nachdem die Polizei fünf Millionen Stimmzettel konfisziert hatte. Eine Gruppe von Wissenschaftlern und Fachleuten werde als Wahlbeobachter dienen. Die vom Regionalparlament ernannte Wahlkommission war vor einigen Tagen aufgelöst worden, um eine Bestrafung zu vermeiden.

Um kurz nach 6 Uhr fängt es an, in Strömen zu regnen – die meisten flüchten sich unter Bäume oder Hausbalkone. Eine halbe Stunde später rufen plötzlich alle „psssst“ und machen sich auf Richtung Schultor. An der Straßenecke nähern sich zwei katalanische Polizisten, die Mossos d’Esquadra heißen. Sie gelten für die Katalanen als eine der Ihren. Die Menge macht ein Spalier frei, damit die Mossos dort durchgehen können.

Die Schule ist abgesperrt – nur Alte dürfen sich dort vor dem Regen schützen. „Wir können hier nicht alle reinlassen“, erklärt ein Vater. „Am Montag ist ja wieder normaler Schulbetrieb“. Bei aller Revolution halten sich die Separatisten an die Ordnung. Überhaupt ist die Szene sehr friedlich, die Stimmung gespannt aber nicht aggressiv. Womöglich wäre das anders gewesen, wenn spanische Polizisten gekommen wäre. Sie sehen die Katalanen als den langen Arm der Zentralregierung aus Madrid, die ihnen ihre demokratischen Rechte streitig machen will. 

Die Mossos nehmen in der Schule, wo rund 70 Eltern übernachtet haben, ein Protokoll auf. Vor den Türen herrscht in der Zeit gebannte Stille. Wieder fliegen Hubschrauber über der Straße, doch dieses Mal sind alle ruhig. Dann erscheint am Schultor ein Elternsprecher, klettert hinter dem Gittertor auf einen Stuhl „psssstt“ rufen wieder alle, denn ein Megaphon hat er nicht. Er erklärt, die Mossos würden nun wieder gehen und bittet erneut, einen Gang für sie frei zu machen. Es braust Applaus auf und dann skandieren alle „voterem, votarem“  - wir werden wählen.

Die Mossos hatten zuvor erklärt, sie hielten sich an die Anweisungen der Generalstaatsanwaltschaft, aber ihre vorderste Aufgabe sei, die Sicherheit der Bürger zu garantieren. Ihnen wurden von Kritikern in den vergangenen Tagen aber mangelndes Engagement vorgeworfen. Madrid hat deshalb rund 10.000 spanische Polizisten nach Katalonien beordert.

Kurz nachdem die Mossos die Schule verlassen haben, kommen von der anderen Seite zwei Menschen angerannt – sie tragen die Urnen in die Schule. Die spanische Polizei hat in den vergangenen Tagen zwar rund 12 Millionen Wahlzettel beschlagnahmt (es gibt 5,3 Millionen Wahlberechtigte in Katalonien), ihr war es bislang aber nicht gelungen, die Urnen zu finden.

Kurz drauf klettert der Elternsprecher wieder auf den Stuhl. Nach einem ausgedehnten psssst sagt er: „Wir müssen jetzt die Wahltische aufbauen, bitte macht einen Gang frei für diejenigen, die in der Schule übernachtetet haben, sie kommen jetzt raus.“ Riesiger Applaus. Einer nach dem anderen der insgesamt 70 Eltern kommt heraus und die Menge skandiert unter rythmischem Klatschen „moltes  gràcies“, vielen Dank auf katalan. Es dauert Minuten, bis alle aus der Schule sind und die Rufe reißen nicht ab. Es ist ein Moment großer Solidarität. Draußen stehen die Nachbarn, die nun wählen können, weil drinnen die Eltern ausgeharrt haben.

Um 8:30 Uhr hat sich eine über 100 Meter lange Schlange vor dem Wahllokal gebildet. Die ersten

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