Regierung ändert Lehrplan Türkei streicht Evolution aus Bio-Unterricht

In Zukunft wird Evolution an türkischen Schulen nur noch in Philosophie als eine von mehreren „ontologischen Meinungen“ unterrichtet. Lehrer sind besorgt. Doch die Regierung ändert den Lehrplan trotz Protesten.

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Viele Türken glauben, dass Gott das Leben erschaffen habe. Quelle: AP

Istanbul Am Montag beginnt in der Türkei das letzte Schuljahr, in dem die Schüler im Biologieunterricht über Evolution lernen. Nächsten Herbst werden die Evolution und Charles Darwin aus ihren Biologiebüchern verschwunden sein. Die Türkei hat Änderungen an mehr als 170 Themen des Lehrplans angekündigt. Dazu zählt, alle direkten Bezüge zur Evolution aus dem Biologieunterricht an Sekundarschulen zu entfernen.

Die geplanten Änderungen haben Proteste hervorgerufen. Kritiker sagen, die Bildung werde an die Linie der konservativen, islamorientierten Regierung angepasst. Oppositionsparteien und Gewerkschaften haben Proteste gegen die Änderungen organisiert und gefordert, dass die Türkei ihren Schülern eine wissenschaftliche, säkulare Bildung bietet. Auch im Parlament haben manche Abgeordneten den neuen Lehrplan abgelehnt.

Bildungsminister Ismet Yilmaz sagte, der neue „wertbasierte“ Lehrplan vereinfache Themen und bringe sie in Einklang mit der Entwicklung der Schüler. Das Ministerium halte Evolutionsbiologie für zu anspruchsvoll für die Sekundarschule. Sie werde weiterhin an Universitäten gelehrt.

Bislang wird Evolutionsbiologie in der zwölften Klasse im Biologieunterricht gelehrt. Das Kapitel heißt „der Beginn des Lebens und Evolution“. Der Abschnitt wird im September 2018 ersetzt durch „Lebewesen und die Umwelt“. Dann werden Evolutionsmechanismen wie Anpassung, Mutation und natürliche und künstliche Selektion ohne Erwähnung der Evolution oder Darwins gelehrt werden.

Yilmaz zufolge werden Schüler in der elften Klasse in Philosophie über die Natur des Seins, inklusive „Evolution und andere ontologische Meinungen“, unterrichtet werden.

Auch andere Lehrplanänderungen sind umstritten. Im Religionsunterricht wird der Dschihad, der sogenannte heilige Krieg, als „Liebe des Heimatlandes“ dargestellt. Zudem wird Mustafa Kemal Atatürk, dem von Säkularen hochgeschätzten Gründer der türkischen Republik, weniger Bedeutung beigemessen. Atatürk hatte die Trennung von Staat und Religion eingeführt, doch die Partei des gegenwärtigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verfolgt einen religiöseren Ansatz.

Der Sieg der Regierung über Putschisten im vergangenen Jahr wird nach dem neuen Lehrplan als „legendäre, heroische Geschichte“ dargestellt werden. Bei ihrer Verfolgung angeblicher Anhänger der Putschisten hat die Regierung seither mehr als 33.000 Lehrer entlassen – vier Prozent aller Lehrer – sowie 5.600 Hochschuldozenten und Wissenschaftler. Etwa 880 Schulen wurden wegen angeblicher Verbindungen zu Terrorgruppen geschlossen. Viele Entlassene werfen der Regierung vor, den gescheiterten Putsch als Vorwand zu nehmen, um Kritiker mundtot zu machen.

Viele Türken glauben, dass Gott das Leben erschaffen habe. Lehrer sind besorgt, weil türkische Schüler laut OECD in Wissenschaft und Mathematik sowie beim Lesen auch bislang schon schlechter sind als der weltweite Durchschnitt.

Mehmet Somel, der Leiter der türkischen Gesellschaft für Ökologie und Evolutionsbiologie, sagte, türkische Schüler würden nicht einmal wissenschaftliche Grundlagen verstehen können, wenn sie nicht von der Evolution erfahren. „Wir werden keine guten Ärzte, guten Wissenschaftler hervorbringen können, wenn Schüler die Sekundarschule mit diesem Niveau an Ignoranz abschließen“, sagte er. Durch Beschäftigung mit der Evolution würden künftige Ärzte beispielsweise den kausalen Zusammenhang zwischen übermäßigem Gebrauch von Antibiotika und resistenten Mikrobenarten erkennen, sagte er.

Cagri Mert Bakirci, ein Biologe, der ein Internet-Lernprojekt namens „Baum der Evolution“ gegründet hat, bezeichnete die Behauptung des Ministeriums, dass Evolution zu schwierig für türkische Schüler sei, als eine Beleidigung der Schüler und ihrer Lehrer. Sein Freiwilligenprojekt erreicht pro Woche acht Millionen Menschen über Facebook mit Videos und Artikeln. „Ich kann Evolution in zehn Sekunden erklären“, sagte er.

Orkide Kuleli, eine pensionierte Pharmakologin, sagte, ihre 15-jährige Tochter werde nun selbst über Darwin lernen müssen. Mehr Sorgen bereite ihr eine schleichendere Änderung, die sich im türkischen Bildungssystem vollziehe. „Das Ziel ist es, die Gesellschaft politisch und ideologisch zu verwandeln, statt sie durch Wissenschaft zu entwickeln“, sagte sie. „Eine Gesellschaft, die nichts in Frage stellt, ist eine, die blind gehorcht.“

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