Region Cherson Ukraine wirft Russland Sprengung von Staudamm vor – Moskau dementiert

Der wichtige Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine ist zerstört. Präsident Selenski macht „russische Terroristen“ dafür verantwortlich. Moskau wiederum beschuldigt Kiew.

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Russischen Behördenangaben zufolge seien jedoch 22.000 Menschen von Überschwemmungen bedroht. Quelle: AP

Im von Russland besetzten Teil der Südukraine ist nach Angaben beider Kriegsparteien ein großer und wichtiger Staudamm nahe der Front schwer beschädigt worden. Kiew und Moskau machten sich am Dienstagmorgen gegenseitig für den Vorfall in der Region Cherson mit potenziell gravierenden Folgen verantwortlich.

Das ukrainische Einsatzkommando Süd teilte mit, die russischen Besatzer hätten den Damm in der Stadt Nowa Kachowka gesprengt. Der Militärgouverneur des Gebiets, Olexander Prokudin, warnte, innerhalb von fünf Stunden könne der Wasserstand eine kritische Höhe erreichen.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski rief in Kiew den nationalen Sicherheitsrat ein. Militärgouverneur Prokudin erklärte, auf der linken Seite des Flusses Dnipro - wo auch die von den Ukrainern befreite Gebietshauptstadt Cherson liegt - sei mit Evakuierungen begonnen worden. „Das Ausmaß der Zerstörung, die Geschwindigkeit und Menge des Wassers sowie die wahrscheinlichen Überschwemmungsgebiete werden gerade bestimmt“, erklärte er. Bislang seien laut ukrainischen Angaben rund 300 Häuser evakuiert worden. Der Damm lässt sich Behördenangaben zufolge wahrscheinlich nicht reparieren.

Die russischen Besatzer hingegen machten ukrainischen Beschuss für die Schäden am Kachowka-Staudamm verantwortlich. „Das Wasser ist gestiegen“, sagte der von Moskau eingesetzte Bürgermeister in Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, staatlichen russischen Nachrichtenagenturen zufolge. Bislang gebe es aber keine Notwendigkeit, Zivilisten in Sicherheit zu bringen.

Russischen Behördenangaben zufolge seien jedoch 22.000 Menschen von Überschwemmungen bedroht. Das meldet die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA unter Berufung auf die von Russland installierte Verwaltung in den besetzten Teilen der ukrainischen Oblast Cherson. Die Menschen lebten in 14 Ortschaften im Süden der Oblast Cherson. Von der Zerstörung des Staudammes könnten der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass zufolge allerdings rund 80 Ortschaften betroffen sein.

Wasserstand könnte zum Problem werden

Bürgermeister Leontjew räumte aber ein, dass es zu Problemen bei der Wasserversorgung auf der bereits 2014 von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim kommen könnte, die südlich von Cherson liegt. Diese wird mit Wasser aus dem Kachowka-Stausee beliefert. Die Angaben beider Seiten zu dem Vorfall am Staudamm konnten zunächst nicht unabhängig überprüft werden.

In ukrainischen Medien und in sozialen Netzwerken wurden Videos geteilt, die dem Anschein nach bereits gestiegenen Wasserstände um die Stadt Cherson zeigten. Außerdem wurden Aufnahmen geteilt, auf denen offenbar die ausströmenden massiven Wassermengen an der Staudammmauer in Kachowka zu sehen waren. Die Echtheit der Videos konnte zunächst nicht unabhängig überprüft werden.

Angesichts der angespannten Lage berief Präsident Selenski den Sicherheitsrat ein. „Russische Terroristen“, schrieb Selenski außerdem auf Telegram. „Die Zerstörung des Damms des Kachowka-Wasserkraftwerks beweist der ganzen Welt, dass sie aus jeder Ecke der Ukraine vertrieben werden müssen.“

Unterschiedliche Angaben zu Sicherheit von AKW Saporischschja

Zur Sicherheit des Atomkraftwerks (AKW) Saporischschja gibt es allerdings unterschiedliche Angaben. Nach russischer Darstellung gibt es durch den Einsturz des Staudammes keine unmittelbare Gefahr für das AKW. Das berichtet die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf einen von Russland eingesetzten Verwaltungsvertreter im besetzten Gebiet Saporischschja.

Auch nach Einschätzung der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) gibt es ebenfalls keine direkte Gefahr. Experten der IAEA beobachteten die Lage, zitiert Tass aus einer Erklärung der IAEA.

Die ukrainische Atomenergiebehörde Energoatom sieht allerdings eine Gefahr für das Atomkraftwerk. Die Lage in dem AKW sei aber gegenwärtig unter Kontrolle, teilt Energoatom auf Telegram mit. „Wasser aus dem Kachowka-Stausee ist notwendig, damit die Anlage Strom für die Turbinenkondensatoren und Sicherheitssysteme des Kernkraftwerks erhält“, erklärt Energoatom. „Derzeit ist das Kühlbecken der Anlage voll: Um 08.00 Uhr beträgt der Wasserstand 16,6 Meter, was für den Bedarf der Anlage ausreicht.“

Der britische Außenminister James Cleverly macht Russlands Invasion für die Zerstörung des Staudammes verantwortlich und fordert den sofortigen Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine. „Ich habe Berichte über die Explosion am Damm und die Gefahr einer Überschwemmung gehört“, sagt Cleverly, der sich derzeit in der Ukraine aufhält, der Nachrichtenagentur Reuters.

„Es ist noch zu früh, um irgendeine aussagekräftige Bewertung der Einzelheiten vorzunehmen. Aber man sollte nicht vergessen, dass der einzige Grund, warum dies überhaupt ein Problem darstellt, Russlands unprovozierte umfassende Invasion der Ukraine ist“, sagt der Minister. „Wir werden die Entwicklung der Lage weiterhin beurteilen, aber das Beste, was Russland jetzt tun kann, ist, seine Truppen sofort abzuziehen.“

Russland hatte das Nachbarland Ukraine vor mehr als 15 Monaten überfallen und im Zuge seines Angriffskriegs auch das Gebiet Cherson besetzt. Im vergangenen Herbst gelang der ukrainischen Armee dann die Befreiung eines Teils der Region - darunter auch die der gleichnamigen Gebietshauptstadt Cherson. Städte südlich des Dnipro blieben allerdings unter russischer Kontrolle, darunter auch die Staudamm-Stadt Nowa Kachowka.

So berichtet das Handelsblatt über den Ukraine-Krieg:

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  • Russland intensiviert die Angriffe auf Kiew
  • Mit welchen Waffen die Ukraine zurückschlägt
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Immer wieder hatten die Ukrainer in den vergangenen Monaten vor einem möglichen Sabotageakt der Russen in Nowa Kachowka gewarnt. Für besondere Beunruhigung sorgte, als die Besatzer im vergangenen November die Evakuierung der Stadt ankündigten.

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