Für ein Praktikum bei TCL zog Nathan nach Guangzhou und lernte dort Lily kennen. Kurz darauf nahm er am TCL-Hauptsitz in Shenzhen einen Job an. Lily stammt aus der benachbarten Vier-Millionen-Stadt Huizhou. Die 24-Jährige spricht noch Kantonesisch, die Sprache der Alteingesessenen im Perlflussdelta. Heute ist sie damit inmitten der Zuwanderer in der Minderheit.
Inzwischen schuften die Wanderarbeiter längst nicht mehr nur auf dem Bau oder wie menschliche Roboter an Fließbändern. Viele arbeiten heute als Kellner, Taxifahrer oder Händler. Sie wohnen nicht mehr in Fabrikkasernen, sondern mieten Wohnungen. Die Quartiere sind oft eng, manche alt, aber keine Slums. Wer es sich leisten kann, der zieht in einen Neubau.
Stadtbürger wird er dabei nicht. Denn das sozialistische Meldesystem teilt die Menschen in Stadt- und Landbewohner. Wer in der Provinz geboren ist, kann Jahrzehnte in einer Fabrik in Dongguan arbeiten, er bleibt offiziell Bürger seines Dorfes. Die Regelung half, den Zustrom der Menschen zu steuern und Elendsviertel zu verhindern. Als in der Wirtschaftskrise 2008 viele Fabriken schlossen, mussten Millionen Arbeiter in ihre Dörfer zurückkehren.
Heute ist gut die Hälfte der Bewohner der Region Einwohner zweiter Klasse. Wer kein Stadtbürger ist, hat kein Recht auf lokale Sozialleistungen, muss etwa Schulgebühren selbst zahlen. Das zu ändern würde nicht nur die kommunalen Finanzen überlasten. Viele Einheimische wollen ihre Privilegien nicht teilen. „Es gibt Konflikte zwischen Einheimischen und Zugezogenen“, sagt Experte Breitung, „aber sie spielen sich meist unter der Oberfläche ab.“
Nathan kommt in Shenzhen an. Der Bahnhof ist hochmodern, wie fast alles hier. Nathan geht zur U-Bahn, öffnet das Drehkreuz mit seiner elektronischen Fahrkarte und wartet. Auf Flachdisplays läuft Werbung für Instant-Nudeln und Gesichtscreme. Die Türen öffnen sich automatisch, hektisch drängen Leute heraus und herein. Ein paar Stationen, und er ist zu Hause.
Shenzhen ist als modernste Stadt des Deltas so etwas wie der Prototyp für die Urbanisierung der Region. Nur 20.000 Einwohner hatte das Fischerdorf an der Grenze zu Hongkong 1980. Heute leben hier elf Millionen Menschen.
Zumindest optisch ist das Projekt größtenteils geglückt. Palmenalleen verleihen der Retortenstadt den Charme eines chinesischen Miamis. Wohnanlagen aus 40-stöckigen Gebäuden heißen „King’s Ville“ oder „Chevalier“. An den Eingängen stehen romantisierende Pferdestatuen. Restaurants servieren vermeintlich italienische Gerichte – und reichen dazu Essstäbchen. In Shekou, dem Hafenviertel, reihen sich Boutiquen und Cafés im Schatten großer Banyan-Bäume aneinander.
Güterverkehr unter der Erde
Doreen Liu schätzt die Errungenschaften der neuen Infrastruktur. Die in den Sechzigern in Guangzhou geborene Architektin hat in den USA studiert und lebt heute in Shenzhen und in Hongkong. In ihrer Kindheit dauerte die Fahrt mit dem Schiff von Guangzhou nach Zhongshan Stunden, erinnert sie sich. Ihr Büro Node Design liegt an einer kleinen Straße, die sich einen Hügel hinaufwindet. Rechts wachsen Banyan-Bäume, der Hibiskus blüht leuchtend rosa und rot.