
Die Decke ist niedrig, die Luft stickig. Dicht an dicht warten die Menschen im Bahnhof von Guangzhou. Geschäftsleute mit Laptops, Wanderarbeiterinnen mit Plastiktüten voller Essen und Kleidung, Studenten mit Hornbrillen, in Smartphones vertieft. Nathan Zhang ist einer von ihnen. Der 24-jährige Logistikmanager des Elektronikkonzerns TCL war über das Wochenende bei seiner Freundin Lily Wang. Jetzt wartet er auf den Schnellzug nach Shenzhen, seinem neuen Arbeitsplatz und Wohnort. Passagier für Passagier zwängt sich durch die Ticketkontrolle. Es ist Frühling, noch ist es nicht so schwül wie im Sommer, aber die Feuchtigkeit ist bereits spürbar. Schrittweise geht es zum Bahnsteig. Zehn Minuten später rollt Nathan aus der 14-Millionen-Stadt mit ihrem Mix aus futuristischen Wolkenkratzern und engen, aus den Neunzigerjahren stammenden Bauten für die Zugezogenen.
Die 100 Kilometer lange Zugfahrt im subtropischen Südosten Chinas führt durch eine der produktivsten Regionen der Welt. Ihre Wirtschaftsleistung ist mit rund 1030 Milliarden Dollar fast so groß wie die von ganz Südkorea. Zugleich ist es eine Exkursion in das weltweit ehrgeizigste Urbanisierungsprojekt: Hier im Perlflussdelta entsteht die größte Metropole der Welt.
Die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen
China ist der nach Frankreich und den Niederlanden der größte Handelspartner Deutschlands. 2013 wurden Waren im Wert von mehr als 140 Milliarden Euro ausgetauscht. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) geht davon aus, dass China in etwa zehn Jahren zum Handelspartner Nummer eins aufsteigen wird.
Die Exporte nach China summierten sich 2013 auf rund 67 Milliarden Euro. Exportschlager sind Maschinen, Fahrzeuge und chemische Produkte. Für Unternehmen wie Audi ist China bereits der wichtigste Absatzmarkt.
Die Chinesen schickten 2013 Waren im Wert von gut 73 Milliarden Euro hierher und damit etwa viermal so viel wie 2000. Vor allem Computer, Handys und Elektronik liefert der Exportweltmeister nach Deutschland. Weitere Verkaufsschlager sind Bekleidung und elektrische Ausrüstungen.
Mehr als 26,5 Milliarden Euro haben deutsche Unternehmen bislang in China investiert. Etwa 4000 Firmen sind dort aktiv. Allein 2012 stiegen die deutschen Investitionen in der Volksrepublik um 28,5 Prozent auf 1,45 Milliarden Dollar. Umgekehrt zieht es immer mehr Chinesen nach Deutschland. 98 Unternehmen siedelten sich 2012 hierzulande neu an - China ist damit Auslandsinvestor Nummer drei, nach den USA und der Schweiz. 2000 Unternehmen sind inzwischen hier ansässig.
Bis 2020 sollen elf Millionenstädte weitgehend zusammenwachsen: Guangzhou, Zhongshan, Zhaoqing, Foshan, Dongguan, Zhuhai, Shenzhen, Huizhou, Jiangmen, Hongkong und Macao (siehe Grafik). 60 Millionen Menschen – fast so viele, wie Großbritannien Einwohner hat – werden dann in dem Ballungsraum leben; auf einer Fläche gerade so groß wie Niedersachsen. Die meisten von ihnen sind Zugezogene wie Nathan.

Es ist ein Kraftakt sondergleichen und so etwas wie die Blaupause für die Zukunft auf der Erde. Denn im Perlflussdelta vollzieht sich, wie im Zeitraffer, der wichtigste Siedlungstrend unserer Zeit: Die millionenfache Wanderung der Menschen in die Ballungsräume, in denen, global betrachtet, seit 2010 mehr Menschen leben als auf dem Land. 2050 werden nach Hochrechnungen der Vereinten Nationen 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten wohnen. In China ist es wohl schon 2030 so weit.
In China begann der Umbruch in den Achtzigerjahren. 1980 lebten weniger als 30 Prozent der Menschen in Städten. Dann siedelte die Regierung mehr als 300 Millionen von ihnen um. Heute haben Peking und Shanghai je mehr als 20 Millionen Einwohner. Landesweit gibt es 171 Städte mit mehr als einer Million Einwohnern.
Kontinent der Giganten | |||
Sieben der zehn größten Städte der Welt werden 2025 in Asien liegen. | |||
Rang | Mega-Metropole | Land | Bevölkerung |
1 | Perlfluss-City | China | 60,0 Mio. |
2 | Tokio | Japan | 38,7 Mio. |
3 | Delhi | Indien | 32,9 Mio. |
4 | Shanghai | China | 28,4 Mio. |
5 | Mumbai | Indien | 26,6 Mio. |
6 | Mexiko-City | Mexiko | 24,6 Mio. |
7 | New York/ Newark | USA | 23,6 Mio. |
8 | São Paulo | Brasilien | 23,3 Mio. |
9 | Dhaka | Bangladesch | 22,9 Mio. |
10 | Peking | China | 22,6 Mio. |
Quelle: UN; eigene Berechnungen |
Die Entwicklung stellt die Politik vor immense, infrastrukturelle Herausforderungen: Ob Wohnungsnot oder Verkehrssteuerung, Energieerzeugung, Wasserversorgung oder Abfallbeseitigung – mit der urbanen Bevölkerungsexplosion wachsen die Aufgaben der Stadtplaner ins Gigantische. Auch gesellschaftlich ist eine enorme Integrationsleistung nötig: Die meisten Menschen kommen aus der Provinz, es gibt kaum gewachsene Nachbarschaften.
Damit wird das Projekt am Perlfluss zum größten denkbaren Experiment, wie sich Urbanisierung sozial- und umweltverträglich organisieren lässt. Günstigstenfalls wird Chinas Mega-Metropole zum Vorbild für die Ballungsräume der Welt – oder zum Albtraum für die Einwohner.