Revolution in Belarus „Lukaschenko, hau ab!“ – 200.000 demonstrieren gegen den Machthaber

Die Wut über den Diktator Lukaschenko treibt die Menschen in Belarus auf die Straße – der lässt Staatsbedienstete zu einer Gegendemonstration herankarren.

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Die Demonstranten protestieren gegen die mutmaßlich gefälschte Wiederwahl von Präsidenten Lukaschenko. Quelle: dpa

Zu Fuß und unter dem Lärm von Autohupen wie bei einem gewonnenen Fußballspiel ziehen die Menschen ins Zentrum von Minsk zum bisher größten Protest gegen Alexander Lukaschenko. Sie tragen die historischen rot-weißen Fahnen von Belarus – ein Ausdruck nationalen Selbstbewusstseins.

„Lukaschenko ist am Ende, die Frage ist nur, wie lange er noch kämpft“, sagt die Bürokauffrau Nadeschda am Sonntag auf der Straße. Auf 200.000 Demonstranten wird die Protestmenge anhand von Drohnenaufnahmen geschätzt.

Kurz zuvor noch lässt der Machthaber Lukaschenko aus allen Teilen des Landes Unterstützer in Bussen herankarren. Einige Staatsbedienstete berichteten, sie seien gezwungen worden, an ihrem arbeitsfreien Sonntag Lukaschenko die Treue zu schwören.

Der 65-Jährige bedankt sich zwar innig in einer Rede auf dem Unabhängigkeitsplatz. Doch das Herz der Revolution in Belarus (Weißrussland) schlägt ein paar Hundert Meter weiter, wo sich seine Gegner versammeln. Sie kommen ohne eine zentrale Organisation aus. Die schiere Wut über Lukaschenko, dem sie eine gefälschte Präsidentenwahl vorwerfen, treibt sie auf die Straßen. Von alleine.

Vor allem das soziale Netzwerk Telegram nutzen Aktivisten für eine blitzschnelle Verbreitung von Protestaufrufen, Nachrichten und Warnungen vor Gefahren und Hilfsangeboten für die Opfer. Dort sind auch bestürzende Videoclips von der Polizeigewalt gegen Demonstranten zu sehen.

Telegram-Gründer Pawel Durow hat bei Twitter mitgeteilt, dass er die Proteste unterstütze. Während viele Internetseiten immer wieder blockiert sind, funktioniert oft nur noch das von Durow gegründete Netzwerk – vor allem ohne Zensur.

Frauen treiben die Proteste an

In den Massenprotesten stechen immer wieder besonders Frauen heraus. Sie haben nach dem Ende der Polizeigewalt den Anfang gemacht mit friedlichen Protesten – barfuß in weißen Kleidern und mit Blumen in der Hand. Sie umarmen, wo möglich, die Uniformierten in ihrer Kampfmontur.

„Es gibt nicht die eine Frau, die das organisiert“, sagt Marina Mentissowa in einem ihrer vielen Interviews in Minsk. Vielmehr hätten sich Tausende Frauen durch „kollektive Vernunft“ im ganzen Land zusammengeschlossen, um friedlich, aber auch mit Humor und freundlichem Lächeln für den Wandel einzutreten.

Die Mädchen und Frauen hätten Angst vor den Prügelattacken der Staatsmacht, sagt die Mutter. „Aber sie haben noch mehr Angst, in einem Staat zu leben, in dem künftig nur noch zugeschlagen wird.“ Mentissowa, die ihre Familie in Moskau zurückgelassen hat, um in ihrer Heimat zu demonstrieren, sagt, dass sich die Frauen vor allem von Swetlana Tichanowskajas Mut inspiriert sehen. Die 37-Jährige Präsidentschaftskandidatin sieht sich als Siegerin der Wahl.

Die Hausfrau ist in das EU-Land Litauen geflüchtet. Dorthin hat die zweifache Mutter auch ihre Kinder in Sicherheit bringen lassen. Sie ist die Symbolfigur des Aufstands gegen Lukaschenko. Tichanowskaja war für ihren Mann, den regierungskritischen Blogger Sergej Tichanowski, bei der Wahl angetreten.

Dass sie als Kandidatin zugelassen wurde, war wohl vor allem der von Lukaschenko immer wieder verbreiteten Ansicht geschuldet, dass Frauen politisch nicht ernst genommen werden könnten. Sie wurde ausgelacht von Lukaschenko - und als armes Opfer bezeichnet. „Sie hat die Kraft des Wassertropfens, der den Stein höhlt“, sagt Mentissowa.

Ihren Wahlkampf hatte Tichanowskaja mit der Frau des nach Russland geflüchteten IT-Unternehmers Waleri Zepkalo und mit Maria Kolesnikowa, der Kampagnenchefin des aussichtsreichen Präsidentschaftsbewerbers Viktor Babariko, geführt. Babariko sitzt ebenfalls in Haft – doch das Frauen-Trio hatte geschafft, Zehntausende Menschen im ganzen Land zu mobilisieren.

„Lukaschenko hat Frauen immer nur als Begleiterinnen gesehen und ihnen kaum Raum in der öffentlichen Politik gegeben“, sagt die belarussische Analystin Maryna Rakhlei. „Die Wahlkampagne der drei Frauen hat gezeigt, dass sie in der Gesellschaft doch anders wahrgenommen werden: als intelligente und gleichberechtigte Mitbürgerinnen, die führen, motivieren und begeistern können.“ Tichanowskaja verkörpere als sanfte, offene und ehrliche Frau das Gegenteil von Lukaschenko. „Er hielt sie für nicht gefährlich – und hat sich verschätzt.“

Doch nach den Tagen mit den Frauen fast allein an der Front haben sich die Proteste nun zu einer Revolution ausgeweitet. Ärzte gehen zu Protesten gegen Gewalt auf die Straße. Ein Schuldirektor verurteilt in einem Clip die Fälschungen in den Wahlprotokollen am Sonntag vor einer Woche. Sicherheitskräfte, einzelne bisher, quittieren den Dienst. Aber auch Prominente wie die vierfache Biathlon-Olympiasiegerin Darja Domratschewa und die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch solidarisieren sich mit den Protesten.

Vor allem aber die Arbeiter in den Staatsbetrieben werden Lukaschenko gefährlich. Viele sind im Streik. Die Arbeitsniederlegung trifft den Machtapparat, der wie zu Sowjetzeiten auf Staatswirtschaft setzt, schwer.

Zwar schickt Lukaschenko Regierungsvertreter und Mitarbeiter der Präsidialverwaltung in die Staatsbetriebe, um mit den Menschen zu sprechen. Aber die Wut der Beschäftigten ist groß: „Lukaschenko, uchodi!“ – zu Deutsch: Hau ab! –, rufen sie.

Für diesen Montag hat auch das Staatsfernsehen mit einem Ausstand gedroht. Die Senderleitung bestelle Berichte zu den Erfolgen der Getreideernte, während auf den Straßen draußen der Aufstand tobe, klagt der Beleuchter Wladimir Iljitsch Titajanko vor Journalisten. Er spreche nur für das technische Personal, gehe aber davon aus, dass da 90 Prozent mitmachen würden. Es gebe keine Antworten auf wichtige Fragen, sagt Wladimir: Wer übernimmt die Verantwortung für die Toten und Verletzten bei den Protesten?

An Einlenken denkt Lukaschenko bisher nicht. Er sieht sein Land umzingelt von Feinden – etwa im Nachbarland Polen –, die ihn stürzten wollten. Vermittlungsangebote lehnt er ebenso ab wie Angebote seiner Gegner, in Dialog zu treten. Bei mehreren Auftritten am Wochenende macht er wieder klar: Er gebe das Land nicht her. Um keinen Preis.

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