Russischer Ex-Spion Mordanschlag in England: Kreml gilt als Hauptverdächtiger

Viele Politiker verurteilen den Anschlag auf den russischen Ex-Spion Skripal. Noch sind die Täter unbekannt, doch viele Finger zeigen auf den Kreml.

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Manchmal verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Realität. So fühlen sich Briten, die die seit Januar laufende BBC-Serie McMafia gesehen haben. In dem Thriller bekämpfen sich Exilrussen in London und diverse Cliquen im Moskauer Staatsapparat. Rivalen und deren Familienangehörige werden gnadenlos ausgeschaltet, es geht um Macht und viel Geld.

Die Vergiftung des russischen Ex-Spions Sergej Skripal, 66, und seiner Tochter Julia, 33, in der realen Welt im englischen Salisbury unterstreicht, wie nah manche Drehbücher der Wirklichkeit sind. In den britischen Medien hat der Mordanschlag alle anderen Themen an den Rand gedrängt. Die Motive der Tat sind noch ungeklärt, auch die Täter sind nicht bekannt. Die Nutzung eines seltenen, vom Militär entwickelten Nervengases deutet jedoch darauf hin, dass ein Staat hinter dem Anschlag steckt. Viele Finger in London weisen bereits auf den Kreml. Auch ein Mafiamord wird nicht ausgeschlossen. Ohnehin überlappen sich in Moskau die Welten der organisierten Kriminalität und der Geheimdienste.
Der Kreml weist jegliche Beteiligung an dem Anschlag zurück. Die britische Regierung vermeidet bisher eine direkte Beschuldigung Moskaus. Doch wird die Möglichkeit einer russischen Beteiligung in jedem Statement erwähnt. Außenminister Boris Johnson und Innenministerin Amber Rudd haben eine robuste Antwort angekündigt, sollte die Spur in den Kreml führen. Verteidigungsminister Gavin Williamson sagte dem Sender ITV, Russland werde „eine immer größere Gefahr“. London müsse seinen Umgang mit Moskau ändern. „Wir dürfen nicht in eine Situation kommen, in der wir von einer anderen Nation herumgeschubst werden“.

Einige Unterhausabgeordnete und Kommentatoren werden deutlicher. „Lasst uns Russland klarmachen: Ihr könnt nicht einfach ungestraft Menschen auf unserem Boden umbringen“, sagte der Labour-Abgeordnete Chris Bryant diese Woche im Parlament. Der „Daily Telegraph“ schrieb in einem Leitartikel: „Es ist schwer, am Kreml oder dem russischen Staatsapparat vorbeizugucken – angesichts ihrer Bilanz an Mordanschlägen im Ausland.“
Der „Telegraph“-Kolumnist Fraser Nelson merkte an, die Feinde des russischen Präsidenten Wladimir Putin hätten „die Angewohnheit, einen seltsamen, gewaltsamen Tod zu sterben“. Er erinnerte an Boris Nemzow, Anna Politkowskaja, Alexander Litwinienko und Sergej Magnitsky.

Die Theorie wurde untermauert von Kirill Kleymenov, einem prominenten Moderator im russischen Staatsfernsehen. Ein Verräter lebe gefährlicher als ein Drogenkurier, sagte er laut „Times“ in seiner Sendung. Es sei sehr selten, dass sie bis zum Ende ihrer Tage in Frieden leben könnten. Er empfahl „professionellen Verrätern“, nicht nach England zu ziehen. „Etwas stimmt da nicht. Vielleicht das Klima. In den letzten Jahren gab es so viele Zwischenfälle mit einem harschen Ende. Menschen werden erhängt, vergiftet, sie sterben bei Hubschrauberabstürzen und fallen massenweise aus Fenstern.“
Der russische Botschafter in Irland, Juri Filatow, klang ähnlich in einem BBC-Interview. Großbritannien sei aus irgendeinem Grund „sehr gefährlich für bestimmte Leute“, sagte er.

Tatsächlich waren in den vergangenen Jahren eine Reihe prominenter Exilrussen und ihre Mitarbeiter unter fragwürdigen Umständen ums Leben gekommen, wie die „Times“ aufzählt. Der Oligarch Boris Beresowky wurde 2013 erhängt in seinem Haus in Berkshire gefunden. Der frühere Agent Alexander Litwinienko wurde 2006 mit radioaktivem Tee vom russischen Geheimdienst vergiftet. Der Steueranwalt Stephen Curtis, ein Vertrauter des Oligarchen Michail Chodorkowsky, starb 2004 bei einem Flugzeugabsturz. Sein Kollege Scot Young fiel 2014 aus seinem Penthouse in London. Ein weiterer Kollege, Johnny Elichaoff, fiel 2014 vom Dach eines Londoner Einkaufszentrums und der russische Whistleblower Alexander Perepilichnyy brach 2012 in der Nähe seines Hauses in der Grafschaft Surrey bei London zusammen.

Die Vorsitzende des Innenausschusses im Unterhaus, Yvette Cooper, forderte diese Woche eine Untersuchung von 14 verdächtigen Todesfällen in den vergangenen Jahren. Die Skripals sind nun ein weiterer Fall. Beide liegen weiterhin bewusstlos auf der Intensivstation in Salisbury. Ihr Zustand ist kritisch, aber stabil. Sie waren am Sonntag bewegungslos auf einer Parkbank gefunden worden. Ein Polizist, der ihnen helfen wollte und dabei dem Nervengas ausgesetzt wurde, liegt auch noch im Krankenhaus. Er ist bei Bewusstsein und kann sprechen. Weitere 18 Personen mussten ebenfalls medizinisch behandelt werden.
Die Tatsache, dass ein Polizist und Passanten dem Nervengas ausgesetzt waren, erhöht den Druck auf die britische Regierung zu handeln. Laut „Times“ laufen Gespräche mit Nato-Partnern über einen Funktionärsboykott der Fußball-WM in Russland im Sommer.

Innenministerin Rudd besuchte am Donnerstag den Tatort, wo immer noch die Spurensuche läuft. Bevor man Schlüsse ziehe, müssten erst die Ermittlungen abgeschlossen sein, sagte sie. Über weitere Optionen werde man erst reden, wenn „absolut klar“ sei, wer die Quelle des Nervengases sei.

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