Russland Das schwere Erbe der Oktoberrevolution

Revolutionäre stürzten den Zaren, ein verheerender Bürgerkrieg mit Millionen Toten brach aus und war die Geburtsstunde der Sowjetunion. Am Dienstag ist der 100. Jahrestag der Revolution - ein zwiespältiger Termin.

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Der Kreml vermeidet jedes offizielle Gedenken an den hundertsten Jahrestag der Revolution von 1917, da es sich für viele weiterhin um eine polarisierendes Ereignis handelt. Quelle: dpa

Moskau Auf dem Weg zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution tut sich Russland schwer mit dem Vermächtnis jenes Aufstandes, der die Nation erneuerte. Der Kreml laviert um eine offizielle Zeremonie des 100. Jahrestages am Dienstag herum. Denn das Thema polarisiert in Russland.

Der Urgroßvater von Alexis Rodsianko war Präsident des russischen Parlaments vor der Revolution. Er drängte Zar Nikolaus II. zur Abdankung, bereute das aber später. Sein Urenkel sieht die Revolution als ein Desaster, das das Land weit zurückwarf. „Jede evolutionäre Entwicklung wäre besser gewesen als das, was passiert ist“, sagt Rodsianko, Präsident der Amerikanischen Handelskammer in Russland. „Die wichtigste Lektion ist, wie ich doch hoffe, dass Russland das nie wieder versucht.“

Die Revolution und der anschließende Bürgerkrieg, dazu die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und das Erbe des Sowjet-Systems - all das habe Russlands Potenzial untergraben und dafür gesorgt, dass die Wirtschaft heute nur ein Bruchteil von dem darstelle, was sie hätte werden können.

Der Anwalt Wjatscheslaw Nikonow sieht das ähnlich. Sein Großvater war Wjatscheslaw Molotow, eine der Schlüsselfiguren bei der Machtergreifung durch die Bolschewiken und Mitglied der kommunistischen Führung über vier Jahrzehnte. Nikonow beschreibt die Revolution von 1917 als „eine der größten Tragödien der russischen Geschichte“.

Der Jahrestag bedeutet auch eine Herausforderung für den amtierenden Präsidenten Wladimir Putin. Obwohl sich Putin über Revolutionsführer Wladimir Lenin in der Vergangenheit kritisch geäußert hat, kommt er doch nicht daran vorbei, dass die Revolution die Geburtsstunde der Sowjetunion war, der viele seiner Anhänger noch immer huldigen. Doch der Veteran des russischen Geheimdienstes KGB verachtet jede Form von Volksaufstand - und deswegen wird er sicherlich auch nicht die Revolution loben, die das russische Zarenreich zerstörte.

Rodsianko glaubt, dass die verworrene Einstellung zu dem Jahrestag ein nationales Trauma widerspiegelt, das noch immer schmerzt. „Es ist ein Zeichen dafür, dass die Menschen noch nicht darüber hinweg sind. Für Russland ist es eine Wunde, die noch lange nicht verheilt ist“, sagt er und verweist auf seinen Urgroßvater Michail Rodsianko, der die Abdankung des Zaren schnell bereute.

Dass die Regierung den Jahrestag nur als untergeordnetes Ereignis behandelt, sieht Nikonow als Zeichen für die tiefe Spaltung Russlands bei der Haltung zur Revolution. Eine landesweite Umfrage des Meinungsforschungsinstituts VTsIOM aus dem vergangenen Monat belegt das: Demnach waren die Befragten zu nahezu gleichen Teilen in zwei Lager geteilt.


„Lenin hat ein großes Imperium zerstört.“

Zu Sowjet-Zeiten wurde der 7. November als Revolutionstag mit großen Militärparaden auf dem Roten Platz begangen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 stoppte Russland die offiziellen Feiern. Die Kommunisten erinnern jedoch weiter an den Tag.

„Es gibt keine Art, die Revolution zu feiern, die von einer Mehrheit mitgetragen würde“, sagt Nikonow. „Ich denke, es ist der beste Weg für die Regierung, in einer solchen Situation alles auf kleiner Flamme zu kochen.“

Wjatscheslaw Molotow blieb ein standfester Kommunist, bis er 1986 im Alter von 96 Jahren in Moskau starb. Sein Enkel Nikonow glaubt dagegen, dass die Revolution einen russischen Sieg im Ersten Weltkrieg verhinderte.

„Anfang des Jahres (1917) war Russland eine der großen Mächte mit perfekten Chancen darauf, den Krieg in wenigen Monaten zu gewinnen“, sagt er. „Aber am Ende des Jahres war Russland keine Macht mehr. Es war zu gar nichts mehr in der Lage.“

Putin hat den Zusammenbruch der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Aber er hat auch die Revolution verurteilt. Diese Ambivalenz hat ihre Wurzeln darin, dass er die Errungenschaften des Zarenreichs wie auch des sowjetischen Imperiums dafür nutzen möchte, Russlands internationalen Einfluss wieder herzustellen.

„Er wird das Event nicht feiern“, sagt Andrej Kolesnikow vom Moskauer Carnegie Center mit Blick auf Putin. „Für ihn hat Lenin ein großes Imperium zerstört.“

Putin hat Symbole aus verschiedenen Phasen der russischen Geschichte verwendet, um den nationalen Ruhm des Landes aufzupolieren. Er führte die Nationalhymne im sowjetischen Stil wieder ein, hielt jedoch an der imperialen dreifarbigen Flagge und dem doppelköpfigen Adler-Wappen fest. Er ignorierte Forderungen, Lenins einbalsamierten Leichnam aus dem Mausoleum am Roten Platz zu entfernen und zu begraben. Er förderte den stetig wachsenden Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche und konservativer Strömungen.

Dima Litwinow ist der Urenkel von Maxim Litwinow, dem Vorgänger Molotows als sowjetischer Außenminister. Sein Urgroßvater wäre entsetzt „über den extremen Nationalismus und die religiöse Intoleranz, die in Russland aufkommen“, sagt er. „Ich denke, er würde das in Frage stellen und Widerstand gegen all diese Dinge leisten.“

Nach Einschätzung Litwinows ist Russland heute noch immer mit manchen der Probleme konfrontiert, die zum Ausbruch der Revolution vor 100 Jahren führten. „In gewisser Weise ist Russland nicht vorangekommen“, sagt er. „Die Menschen fühlen sich der Möglichkeit beraubt, ihr Schicksal zu beeinflussen. Und der Regierung und den Behörden gefällt das so.“

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