Als sich Putin vor kurzem für zehn Tage nicht in der Öffentlichkeit zeigte, herrschte große Verwunderung, es gab viele Gerüchte: Von einer Erkrankung war die Rede, ebenso wie von der Geburt eines Kindes einer Geliebten bis hin zur Entmachtung. Der Kreml dementierte alles.
Das Verschwinden des Präsidenten ist nur schwer zu erklären, baut doch ein Großteil des Systems allein auf der Person Putin auf. Dabei lässt sich von außen schwer beurteilen, wie stark Putins Macht in Russland wirklich noch ist: Ist er ein starker Präsident mit weitreichenden Entscheidungsbefugnissen oder nur eine Marionette rivalisierender Gruppen der russischen Elite? Für beide Argumentationen gibt es gute Belege: Einerseits sind die Zustimmungswerte der Bevölkerung für Putin nach wie vor gut. Andererseits können die härteren Gesetze gegen Minderheiten, wie homosexuelle Menschen, ebenso als Indiz für einen Machtverlust gewertet werden, wie das harte Vorgehen gegen die Opposition durch Putin. Das wird von internationalen Beobachtern zunehmend für ein Zeichen von zunehmender Angst und Nervosität gesehen.
Fünf Folgen der Wirtschaftskrise in Russland
Das von den Einnahmen aus dem Geschäft mit Öl und Gas abhängige Russland steckt in einer Rezession. Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew erwartet einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um drei Prozent. Im Staatshaushalt klafft eine Finanzlücke.
Wegen des starken Ölpreisverfalls ist der Rubelkurs im vergangenen Jahr im Vergleich zum Dollar und Euro massiv eingebrochen. Den Höhepunkt erreichte der Wertverfall Mitte Dezember, als ein Euro vorübergehend fast 100 Rubel kostete - das entspricht einem Absturz von 90 Prozentpunkten seit Januar 2014. In den vergangenen Wochen erholte sich der Rubel ein wenig. Anfang März mussten Russen für einen Euro noch rund 66 Rubel bezahlen, fast doppelt so viel wie ein Jahr zuvor.
Um den schwächelnden Rubel zu stützen, verkauft die russische Zentralbank im großen Stil Devisen, die die Rohstoffmacht mit dem Verkauf von Öl und Gas angespart hat. Die internationalen Währungsreserven schrumpften nach Angaben der Notenbank seit März 2014 um mehr als ein Viertel von fast 500 Milliarden Dollar (etwa 460 Mrd Euro) auf 360 Milliarden Dollar.
Das Leben in Russland wird rasant teurer. Das merken die Menschen vor allem an der Miete und an der Kasse im Supermarkt. Das Wirtschaftsministerium erwartet für dieses Jahr eine Inflation von rund 12 Prozent. Die Preise für Lebensmittel stiegen in den vergangenen Monaten aber im Durchschnitt sogar um rund 20 Prozent. Experten warnen wegen der Krise in Russland vor einer deutlich höheren Inflation. Manche gehen von bis zu 17 Prozent aus.
Der massive Abzug von Kapital aus Russland ist nach Meinung von Ex-Finanzminister Alexej Kudrin ein schwerer Schlag für die heimische Wirtschaft. 2014 wurden nach Angaben der Zentralbank Vermögenswerte im Wert von mehr als 150 Milliarden Dollar (140 Mrd Euro) aus Russland verlegt, fast zweieinhalb Mal so viel wie im Vorjahr. Für 2015 erwarten die Behörden eine Kapitalflucht von bis zu 100 Milliarden Dollar. Wegen der Senkung der Kreditwürdigkeit Russlands durch internationale Ratingagenturen warnen Experten sogar vor Kapitalflucht von bis zu 135 Milliarden Dollar.
„Putin ist eine PR-Figur,“ sagt Stefan Meister, Programmleiter für Osteuropa und Zentralasien bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Ein Moderator zwischen rivalisierenden Gruppen in der russischen Elite, wie etwa liberalen Kräften und rechten Nationalisten. „Putin wird von diesen Gruppen aber auch gedrängt, Entscheidungen zu treffen, so dass selten klar ist, ob der russische Präsident diese auch wirklich unterstützt oder sie nur seinem Machterhalt dienen.“ Ähnlich bewertet das Jens Siegert. Er leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau. "Putin steht vor der Entscheidung: Macht oder Modernisierung - und er hat sich ganz klar für seinen Machterhalt entschieden,“ sagt der Russlandexperte.
Kreml-Kritiker Kasparow - Putin ist ein Krebsgeschwür
Gefahren lauern nicht nur von rivalisierenden Interessengruppen innerhalb des Kremls, sondern auch von Menschen, die mit dem Regime Putin nicht einverstanden sind. Obwohl Russlands Opposition gespalten ist und immer wieder Versuche der liberalen Opposition sich zu vereinen, scheiterten, schafft sie es immer wieder, dem System kleine Nadelstiche zu versetzen. "In Russland gibt es derzeit sehr wenige Menschen, die versuchen, diesen Wahnsinn aufzuhalten", schrieb Anfang des Jahres Lew Schlosberg in einem Kommentar für “Die Welt.” Der Oppositionspolitiker ist Abgeordneter im Stadtrat von Pskow, einer Großstadt im Nordwesten Russlands, und kritisiert damit direkt Putin und das System, das der russische Präsident erschaffen hat: Ein System, in dem Oppositionelle eingeschüchtert, eingesperrt oder umgebracht werden. Viele Kritiker dieses Systems schweigen oder flüchten ins Ausland, wie der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow und der ehemalige Vorstandsvorsitzenden des zerschlagenen russischen Ölkonzerns Yukos, Michail Chodorkowski. Beobachter vermuten allerdings, dass es kaum einem der Oppositionspolitiker gelingen wird, Putins Machtbasis wirklich nachhaltig zu destabilisieren. Der Mord an Nemzow hat gezeigt, dass es der Opposition gelingt, Menschen zu mobilisieren und auf die Straße zu bringen, aber unklar bleibt, welche Rolle sie künftig spielen wird.
Das System Putin
Eine schwache Wirtschaft ist ein weiteres von Putins Problemen: "Russland hat im Moment, vor allem ein ökonomisches Problem - und es stellt sich dabei die Frage, wie lange die Bevölkerung bereit ist, das zu tolerieren,“ sagt Siegert. Die Ökonomie des Landes ächzt seit Monaten unter der Last der Sanktionen aus dem Ukraine-Konflikt. Das Land steht kurz vor der Rezession, leidet unter Sanktionen und dem Ölpreisverfall. Das Bruttoinlandsprodukt werde 2015 voraussichtlich um 0,8 Prozent schrumpfen, sagte der stellvertretende Wirtschaftsminister Alexei Vedev im Dezember. Bislang war von einem Wachstum von 1,2 Prozent die Rede. "Wir gehen jetzt davon aus, dass die Sanktionen das gesamte Jahr 2015 über in Kraft bleiben", sagte Vedev.
Es ist allerdings davon auszugehen, dass auch eine Rücknahme der Sanktionen, nicht zwangsläufig Besserung für die russische Wirtschaft bringen. “Nüchtern betrachtet ist Russland ein zwar wieder hochgerüsteter, aber weiterhin unterentwickelter und undynamischer Staat”, sagt Andreas Umland, Senior Research Fellow am Institut für Euro-Atlantische Kooperation Kiew. “Das ist Putins Achillesferse.” So aber hänge das System Putin an den Einnahmen aus den Energieexporten, die größtenteils in die EU gehen. Daher treten die russischen Vertreter auftrumpfend im Westen auf und spielen die Sanktionswirkungen vehement herunter.
Putin spricht...
„Russland hat keine Absicht, Krieg gegen das ukrainische Volk zu führen.“
am 4.3. in einer Pressekonferenz
„Wenn ich will, kann ich in zwei Wochen Kiew einnehmen.“
in einem am 01.09. bekanntgewordenen Telefonat mit EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso
„Die Militarisierung des Weltraums und die US-Stützpunkte in Europa und Alaska, direkt an unserer Grenze, nötigen uns zu einer Reaktion.“
am 10.09. in einer Pressekonferenz
„Russland behält sich das Recht vor, alle vorhandenen Mittel zu nutzen, sollte es in östlichen Regionen der Ukraine zu Willkür kommen.“
am 4. 3. in einer Pressekonferenz
„Diese Gebiete (im Süden und Osten der Ukraine) waren als Neurussland historisch ein Teil des Russischen Reiches. Erst in den 1920er Jahren wurden die Territorien von den Bolschewiken der Ukraine gegeben. Gott weiß warum.“
am 17. 4. im russischen Staatsfernsehen
„Es müssen umgehend substanzielle inhaltliche Verhandlungen anfangen - nicht zu technischen Fragen, sondern zu Fragen der politischen Organisation der Gesellschaft und der Staatlichkeit im Südosten der Ukraine.“
am 31. 8. vor dem Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe
„In der Ukraine gibt es bislang keine legitime Macht, mehrere Staatsorgane werden von radikalen Elementen kontrolliert.“
am 18. 3. in der Rede an die Nation
„Sind sie da jetzt völlig verrückt geworden? Panzer, Schützenpanzerwagen und Kanonen! (...) Sind sie total bekloppt? Mehrfachraketenwerfer, Kampfjets im Tiefflug! (...) Sind sie dort jetzt völlig bescheuert geworden, oder was?
am 17. 4. im russischen Staatsfernsehen
„In der Ukraine überschritten die westlichen Partner die rote Linie, verhielten sich grob, verantwortungslos und unprofessionell.“
am 18.3. in der Rede an die Nation
„Die Vereinigten Staaten dürfen in Jugoslawien, Irak, Afghanistan und Libyen agieren, aber Russland soll es verwehrt sein, seine Interessen zu verteidigen.“
am 18.3. in der Rede an die Nation
„Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden die Russen zu einem der größten geteilten Völker der Welt. Millionen von Menschen gingen in einem Land ins Bett und erwachten in einem ganz anderen und wurden zur nationalen Minderheit.“
am 18.3. in der Rede an die Nation
„Ich glaube daran, dass die Europäer, vor allem aber die Deutschen, mich verstehen werden (...). Unser Land hatte das starke Bestreben der Deutschen nach Wiedervereinigung unterstützt. Ich bin sicher, dass sie das nicht vergessen haben und rechne damit, dass Bürger Deutschlands das Bestreben der russischen Welt, ihre Einheit wiederherzustellen, (...) ebenfalls unterstützen werden.“
am 18.3. in der Rede an die Nation
Bei vielen Europäern wirke der Bluff, so Umland. Wenn sich Investoren, wie Opel mit der Schließung seines Werkes in Sankt Petersburg zum Jahresende zurückziehen, dann ist das Wachstum nachhaltig verzögert. Experten warnen sogar vor einem Zusammenbruch der russischen Wirtschaft: Russland sei momentan zu einer dramatischen Verringerung der Importe gezwungen, der die Bevölkerung einem hohen Leidensdruck aussetze. Der russischen Gesellschaft drohe dadurch eine “gefährliche Destabilisierung”.
“Je kleiner der Kuchen wird, desto instabiler wird das System Putin”, sagt auch Andreas Umland. “Es gibt wahrscheinlich schon jetzt viele bislang treue Regimediener, die ein Sinken ihres Lebensstandards hinnehmen mussten und sich eine Rückkehr zum Status quo von 2013 wünschen. Wenn diese Gruppe wächst, könnte Putins Machtbasis 2018 zu klein für eine vierte Präsidentschaftsperiode werden.”
Momentan ist es schwierig, sich Russland ohne Wladimir Putin vorzustellen. Es mehren sich allerdings die Anzeichen, dass er auf eine weitere Amtszeit verzichtet. Was dann kommt, ist allerdings noch vollkommen offen. „Das System basiert auf der Person Putin und es wurde versäumt, einen Nachfolger aufzubauen oder eine Nachfolgeregelung zu finden“, sagt Siegert. Nach Putin werde wohl weniger ein Oppositioneller, als ein moderater Vertreter des System Putin kommen.“ Womöglich eine Art zweiter Dmitri Medwedjew, vielleicht ein Aufstieg des ehemaligen Finanzministers Alexei Kudrin oder sogar eine zweite Medwedjew-Präsidentschaft“, vermutet Umland. „Kommt es hingegen zu einer fundamentalen Neukonstituierung des russischen Staats, hätte Alexei Nawalny nach jetzigem Stand wohl die besten Chancen auf eine Führungsrolle.“