Russlands Opposition Eine neue Ära für die Gegner Putins

Boris Nemzow war für die politische Opposition ein wichtiger Anführer und Mediator. Nach seiner Ermordung muss sich die Bewegung neu aufstellen: Gesucht wird jemand, der die Kräfte im Kampf gegen Präsident Putin vereint.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Quelle: dpa

Moskau Zehntausende Menschen kamen am Sonntag in Moskau zusammen, um ihre Trauer und ihre Wut über den Mord an Boris Nemzow auszudrücken. Viele der Anwesenden engagieren sich politisch, doch die meisten hatten ihre Parteisymbole zu Hause gelassen. Stattdessen schwenkten sie die russische Flagge oder hielten Bilder des Ermordeten in die Höhe.

„Der 1. März war für uns sehr erfolgreich, es waren so viele Leute da“, sagt Leonid Wolkow. Er war ein politischer Wegbegleiter von Nemzow und hat den Trauermarsch mit organisiert. „Fast würde ich sagen, dass die Opposition nach dem Tod von Boris neue Hoffnung geschöpft hat. Denn die Leute konnten bei all der Trauer endlich mal wieder sehen, wie viele es gibt, die so denken wie sie.“

Eine politische Demonstration dieser Größenordnung – Wolkow spricht von mehr als 50.000 Teilnehmern, laut Polizei waren es 20.000 – gab es zuletzt vor vier Jahren, als Tausende Menschen in Moskau für freie Präsidentschaftswahlen demonstrierten. Seitdem ist es ruhiger geworden um die politische Opposition in Russland, Boris Nemzow war einer der letzten prominenten Gesichter. Doch am Freitagabend wurde er in Moskau auf einer Brücke nahe des Kremls von Unbekannten erschossen.

„Boris’ Tod trifft uns persönlich und politisch“, sagt Wolkow. Der 34-Jährige kannte Nemzow seit sechs Jahren und hat viel mit ihm zusammengearbeitet. „Er war für die politische Opposition ein wichtiger Organisator und vor allem Mediator. Boris hatte als einer der wenigen zu allen Vertretern der Opposition ein gutes Verhältnis. Wir haben viel diskutiert und gestritten, aber Boris hat die Leute erst dann nach Hause gehen lassen, wenn ein Kompromiss gefunden wurde.“ Außerdem sei Nemzow finanziell unabhängig gewesen. Eine Seltenheit innerhalb der außerparlamentarischen Opposition, die wenig Geld habe.

Wolkow glaubt, dass mit dem Tod von Nemzow für die Opposition in Russland eine neue Ära beginnt. „Sie wird sich neu aufstellen müssen, denn Nemzow war eines ihrer Machtzentren. Die politische Landschaft wird sich verändern“, sagt er. Vor einer Stunde war er noch in einem russischen Gefängnis, um Alexej Nawalny zu treffen.

Nawalny hat 2013 bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau fast 30 Prozent der Stimmen geholt und setzte sich damals gegen Korruption und das Recht auf Meinungsfreiheit ein. Seitdem ist er ein Anführer der Anti-Putinbewegung in Russland – und ein Feind der Regierung. Vor zehn Tagen wurde Nawlny inhaftiert, weil er Handzettel in der Moskauer Metro verteilt hatte, um einen Marsch der Opposition zu bewerben. Außerdem wurde er Ende Dezember wegen Betrug zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt.


„Wie in der DDR“

Wolkow war Wahlkampfmanager von Nawalny bei der Bürgermeisterwahl 2013. Heute musste er Nawalny im Gefängnis mitteilen, dass er nicht zu der Beerdigung seines Freundes Boris Nemzow am Dienstag kommen darf. Die Behörden haben eine Freilassung nicht genehmigt, Nawalny muss noch bis zum Ende der Woche in Haft bleiben.

Damit fehlt bei der Trauerfeier eine der schillerndsten Figuren der russischen Opposition – und ein Vertreter der jüngeren Generation. „Nawalny ist vor allem die Stimme der jungen Leute“, sagt sein Berater Wolkow. Die „Fortschrittspartei“, von dem 38-jährigen Anwalt Nawalny vor zwei Jahren gegründet, steht für die tatsächliche Durchsetzung von geltendem Recht, vor allem setzt sie sich für die freie Meinungsäußerung ein.

Daneben gibt es in der politischen Opposition die Generation der „älteren Dissidenten“ aus der Sowjetzeit, die in den Fünfziger und Sechziger Jahren geboren wurden. „Da sind viele Künstler und Lehrer dabei, die zur alten Intelligentsija, der intelektuellen Elite in Russland gehören“, sagt Leonid Wolkow. Boris Nemzow, Jahrgang 1959, war ein Anführer dieser Gruppe, außerdem gehörte auch Michail Kassjanow, Co-Vorsitzender der Partei Parnas, zu den Führungsfiguren. Es sei nicht einfach, die verschiedenen Generationen innerhalb der Opposition zusammen zu bringen, sagt Wolkow. „Aber Nemzow hatte im Gegensatz ein gutes Verhältnis zu Nawalny, er war eine junge Seele.“

Neben der Forschrittspartei und Parnas gibt es noch die linksliberale Partei Jabloko, der russische Begriff für Apfel. Sie hat viele Anhänger in Moskau und größeren Städten Russlands wie Sankt Petersburg oder Jekaterinenburg, gilt aber bei wichtigen Entscheidungen als vom Kreml beeinflusst. Zu einer Minderheit in der Opposition gehören Vertreter von nationaldemokratischen und neoliberalen Parteien.

In der Duma, dem russischen Parlament, ist keine dieser oppositionellen Gruppen vertreten. Wolkow sagt: „In unserem Parlament gibt es keine echte Opposition, das ist wie in der DDR.“ Parteien wie die Liberal-Demokratische Partei Russlands, Gerechtes Russland und die Kommunistische Partei, die neben Putins Partei „Einiges Russland“ in der Duma sitzen, seien vom Kreml geduldet, weil sie zu ihm stünden.

Die außerparlamentarische Opposition Russlands dagegen ist vielfältig und bekannt dafür, keinen geschlossenen Block zu bilden. „Alle unsere Gruppen sind unabhängig und das ist auch gut so“, sagt Wolkow. Allerdings würden sie sich häufig wegen „Kleinigkeiten“ streiten. Manchmal ginge es um längst vergangene Dinge, etwa um die Interpretation der Verfassungskrise in Russland 1993: Während einige Oppositionsanhänger die Panzerschüsse von Jelzin-treuen Streitkräften auf das Regierungsgebäude ablehnten, hielten andere die Reaktion für richtig.


„Wir wollen die Den Putinismus beenden“

Oder es geht um das Thema Wahlbeteiligung: „Manche wollen, dass wir uns grundsätzlich nicht an Wahlen beteiligen, weil sie nicht frei sind“, sagt Wolkow. Es gebe aber auch das Argument, man müsse Wahlen immer nutzen, um seine Meinung zu verbreiten.

Und schließlich würden sich manchmal radikale und eher moderierende Gruppen – ganz unabhängig von ihrem Alter – über die Anmeldung von Demonstrationen streiten. „Manche von uns wollen ihre Kundgebungen nicht bei den Behörden anmelden und lieber einen Protest wie auf dem Maidan in Kiew starten“, sagt Wolkow. Das hält er aber für unrealistisch, weil die Bevölkerung in Russland momentan zu wenig hinter einer solchen Form des Protestes stehe.

Überhaupt scheint die gesellschaftliche Meinung über die außerparlamentarische Opposition recht negativ zu sein: Bei einer repräsentativen Umfrage des Lewada-Zentrums am Freitag sagten nur 15 Prozent der Russen, dass sie mit Politikern wie Nemzow, Kassjanow oder Nawalny sympathisieren. Demgegenüber ist die Beliebtheit von Präsident Wladimir Putin auf einem Rekordwert. In einer anderen aktuellen Umfrage des Lewada-Zentrums sagten 86 Prozent der Russen, dass sie die Politik ihres Präsidenten für richtig halten. Der Wert lag vor zwei Jahren bei 65 Prozent.

„Ehrlich gesagt traue ich diesen Umfragen nicht besonders“, sagt Leonid Wolkow. Manche Leute hätten Angst, sich bei Befragungen gegen Putin zu äußern – selbst dann, wenn sie anonym sind. Gleichzeitig wären diese Leute dann aber trotzdem gegen Korruption, sagt Wolkow. „Also sind sie gegen den Putinismus“.

„Gegen Putinismus“ – das war auch die Losung von Boris Nemzow. 2004 veröffentlichte er einen Artikel „Über die Gefahr des Putinismus“ und 2010 war er Co-Autor des Manifests „Putin muss gehen“ der politischen Opposition Russlands. Wolkow hofft, dass sich die Opposition jetzt ein Beispiel an Nemzow nimmt und es „als sein Erbe betrachtet, Kompromisse zu finden und immer zusammenzustehen, wenn es drauf ankommt“. Denn sie alle hätten ein gemeinsames Ziel: „Wir wollen die Ära des Putinismus so schnell wie möglich beenden.“ Wer die Rolle von Nemzow einnehmen soll, kann sich Wolkow noch nicht vorstellen, das müsse sich von selbst organisieren.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%