Schwellenländer Konsumhungrige Mittelschicht treibt das Wachstum an

Die Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts wird vom Aufstieg einer konsumhungrigen Mittelschicht in den Schwellenländern geprägt.

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Globaler Stabwechsel

Der 16. August 2010 wird den Japanern noch eine Weile in Erinnerung bleiben. An jenem Montag wurde offiziell gemeldet, was schon lange erwartet und doch immer wieder verdrängt worden war: China überholt Japan in puncto Wirtschaftskraft und nimmt nun den Platz als zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde ein. Die Tatsache als solche überraschte niemanden, wohl aber die Schnelligkeit, mit der China trotz der weltweiten Krise in diesem Jahr durchgestartet ist. Viele Experten hatten das Gleichziehen mit Japan erst für 2012 vorausgesagt. Nun korrigierten sie eilig ihre Prognosen herauf: Wenn China in diesem Tempo weitermache, werde es die USA nicht erst 2040, sondern schon 2027 vom ersten Platz verdrängen, schrieben etwa die Analysten von Goldman Sachs.

Chinas Entwicklung ist keine Ausnahme. Zahlreiche weitere Schwellenländer in Asien und Lateinamerika sind derzeit mit Sieben-Meilen-Stiefeln auf der wirtschaftlichen Überholspur unterwegs. Das wirft Fragen nach der Zukunft auf: Wie wird die Weltwirtschaft im Jahr 2050 aussehen? Wer gewinnt und wer verliert? Wo liegen die Chancen und Risiken dieser Entwicklung?

BRICS voraus

Bei aller Ungewissheit ökonomischer Prognosen ist klar: Das 21. Jahrhundert gehört den aufstrebenden Schwellenländern. China und Indien, aber auch Brasilien und Russland (die sogenannten BRIC-Staaten) werden eine tragende Rolle spielen. Aber auch bevölkerungsreiche, dynamische Länder wie Indonesien werden größeres Gewicht erlangen. Die Weltwirtschafts- und Finanzkrise hat ihren Aufstieg deutlich beschleunigt. China wächst derzeit wieder mit zweistelligen Raten und wird sich langfristig bei fünf bis sechs Prozent Wachstum pro Jahr einpendeln. Für die USA erwarten Experten hingegen in den nächsten zehn Jahren krisen- und schuldenbedingt nur ein Trendwachstum von 1,5 bis 2,0 Prozent – deutlich weniger als der Schnitt von drei bis vier Prozent vor der Krise. Um das Jahr 2030 herum werden die BRIC-Staaten die Stärke der sieben größten Industriestaaten (G7) USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Kanada erreicht haben. Bis 2050 werden Indien, Brasilien, Russland und Indonesien auf den Plätzen drei bis sechs der Wirtschaftsleistung rangieren. Deutschland liegt abgeschlagen auf Platz zwölf (siehe Grafik).

Klasse statt Masse

Was sind die treibenden Kräfte, die hinter diesem Aufschwung stehen? Ausschlaggebend sind drei Faktoren, die dem neoklassischen Wachstumsmodell zugrunde liegen: die Menge und Qualität der Arbeitskräfte, der Kapitalstock und der technische Fortschritt eines Landes.

Da ist zum einen das enorme Reservoir an Arbeitskräften, von dem die Schwellenländer zehren: In Asien werden im Jahr 2050 nach UN-Schätzungen 5,2 Milliarden Menschen leben – knapp 60 Prozent der Weltbevölkerung von dann rund neun Milliarden Menschen. Ein enormes Potenzial, aus dem sich noch viel Produktivität ziehen lässt. China wird nach Schätzung von Experten noch die nächsten 20 Jahre von seinem Heer an billigen Arbeitskräften zehren, um die Fabriken zu füllen.

Doch auch Peking weiß, dass seine Bevölkerung als Folge der Ein-Kind-Politik schrumpfen wird. Schon heute braucht das Land neue Strategien, um Wachstum und Wohlstand zu stabilisieren. Deshalb investiert China in Bildung: Derzeit verlassen Schätzungen zufolge zwischen 300 000 und 600 000 Ingenieure pro Jahr chinesische Universitäten – mindestens drei Mal so viele wie in den USA.

Immer mehr Unternehmen aus Schwellenländern stoßen zudem in den Mittel- und Hochtechnologiesektor vor. China, Indien & Co. werden zunehmend wissensbasierte Dienstleistungen und High-Tech-Produkte anbieten, die bislang dem Westen vorbehalten waren. Europa und Nordamerika werden daher in Zukunft mehr und schneller Innovationen generieren müssen, um ihren Vorsprung bei Qualität und Technologie gegenüber den Schwellenländern zu halten.

Asien wächst

All dies wird die internationalen Kräfteverhältnisse massiv verschieben; die Welt wird multipolarer werden. Bereits heute haben die G20 die G7 als zentrales Gremium internationaler Kooperation abgelöst. Weitere Machtverschiebungen zugunsten der BRIC-Staaten – etwa im UN-Sicherheitsrat oder beim Internationalen Währungsfonds – werden folgen.

Für Europa und die USA klingt dies zunächst bedrohlich. Doch ökonomisch wie stabilitäts- und entwicklungspolitisch eröffnen sich große Chancen: Der Wohlstand der Erdbevölkerung wird in den nächsten Jahrzehnten rapide wachsen und sich immer gleichmäßiger über den Globus verteilen. In Asien, Lateinamerika und Teilen Afrikas wächst in großem Tempo eine neue Mittelschicht heran, die eine gewaltige Dynamik entfalten wird.

Neues Bürgertum

Ökonomen schätzen, dass diese Mittelschicht (mit einem Jahreseinkommen zwischen 6000 und 30 000 Dollar) bis 2030 um zwei Milliarden Menschen wachsen wird. In 20 Jahren werden ihr damit rund 50 Prozent der Weltbevölkerung angehören – eine massive Ausweitung gegenüber dem jetzigen Mittelschichtanteil von 29 Prozent. Das Welteinkommen wird in den kommenden Jahrzehnten somit deutlich gleichmäßiger verteilt sein. Kennzeichnend für den neuen Mittelstand ist der Drang nach materiellem Wohlstand. „Generation A“ nennen die Volkswirte der Macquarie Investment Bank die neue Klasse – A steht für Aspiration, das Aufstreben von Milliarden, die mit ihrer Nachfrage die Weltproduktion massiv beeinflussen werden: In Indien etwa wird die Zahl der Kraftfahrzeuge nach Schätzungen von Goldman Sachs von derzeit 17 auf 489 Autos pro 1000 Einwohnern im Jahr 2050 steigen. Ähnlich rasante Entwicklungen sind in China und Brasilien zu erwarten (siehe Grafik). Die europäische Autoindustrie wird massiv profitieren. Vergleichbare Szenarien sind in vielen anderen Sektoren zu erwarten. Asiens Aufstieg muss daher ökonomisch nicht zu-lasten der Industrieländer gehen. Der Kuchen wächst, und alle bekommen mehr, nur bedienen sich die bislang benachteiligten Teilnehmer der Tischrunde künftig kräftiger.

Anlass zur Sorge gibt hingegen der steigende Energiehunger. Im Jahr 2050 werden in den vier BRIC-Staaten 1,5 Milliarden Autos unterwegs sein – rund zehnmal mehr als heute. Indien wird seinen Ölkonsum in den nächsten 40 Jahren verachtfachen, China mehr als verdoppeln.

Daher wird der weltweite Zuwachs an Wohlstand die Konkurrenz um die natürlichen Ressourcen verschärfen. Doch dürfte der technische Fortschritt zugleich die Effizienz der Produktion erhöhen – und so dabei helfen, die Probleme in den Griff zu bekommen. Nicht die Konkurrenz der Schwellenländer mit dem Westen wird daher die entscheidende Frage des 21. Jahrhunderts sein, sondern ob beide Seiten den Zuwachs beim Wohlstand nachhaltig gestalten.

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