Sergej Aleksashenko verbringt derzeit viel Zeit am Telefon. Seit Tagen hält er aus seinem Zuhause in Washington Kontakt zu Freunden und Bekannten in der Ukraine. Aleksashenko kennt sich dort gut aus. Vor der russischen Invasion pendelte er zwischen Kiew und der amerikanischen Hauptstadt hin und her, spricht auch heute noch regelmäßig mit ukrainischen Regierungsvertretern. „Sie haben den ersten Schock überstanden“, sagt er. Die Entschlossenheit, nicht vor Wladimir Putin zu kapitulieren, sei riesig. „Sie werden nicht aufgeben“, sagt Aleksashenko.
Weniger zuversichtlich ist er, was sein Geburtsland angeht: Russland. Aleksashenko gehörte zu den führenden Köpfen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion den Übergang zur Marktwirtschaft organisierten. Von 1993 bis 1995 diente er als stellvertretender Finanzminister des Landes, anschließend bis 1998 als stellvertretender Chef der russischen Zentralbank. Mit Putin konnte er nie etwas anfangen, schließlich drang dem damals noch aufstrebenden Politiker immer der KGB aus allen Poren.
Und so fand sich Aleksashenko schließlich zunehmend in der Opposition zum Kreml wieder. 2013 verließ er Russland und zog nach Washington – auch aus Sorgen über seine persönliche Sicherheit. Aus dem Exil heraus unterstützte weiter Regimegegner, übernahm etwa einen Teil der Kosten für die Behandlung von Alexej Nawalny in der Berliner Charité, nachdem dieser vergiftet worden war.
Illusionen über den Charakter der russischen Regierung hat sich Aleksashenko also schon lange keine mehr gemacht. Trotzdem war er vom Überfall auf die Ukraine überrascht. „Ich konnte mir schlicht kein rationales Szenario vorstellen, in dem Putin durch eine Invasion seine Ziele erreichen könnte“, sagt er. Dass er den Krieg noch gewinnt, kann er sich ebenfalls nicht vorstellen. „Ich denke, der Plan war, Kiew in drei Tagen zu erobern und die Führung des Landes auszutauschen“, sagt Aleksashenko. Kiew sollte zu einem zweiten Nur-Sultan werden – die Ukraine sich so unterwerfen wie Kasachstan. Auf den Widerstand der ukrainischen Bevölkerung und des Präsidenten Wolodimir Selenskij sei der Kreml hingegen nicht vorbereitet gewesen. Nun droht ein langer, quälender Krieg mit hohen Verlusten, ohne dass die Ukrainer sich ihrem vermeintlichen Schicksal ergeben würden. „Für Putin ist das gleichbedeutend mit einer Niederlage“, sagt Aleksashenko.
Denn Zeit hat der Kreml nicht. Die Sanktionen des Westens haben Putin zwar nicht von einer Invasion abgehalten, doch sie werden Russlands Wirtschaft langfristig schaden. „Sie sind viel schärfer als das, was 2014 nach der Annexion der Krim verhängt wurde“, so Aleksashenko. Auf einer Skala von 0 bis 100 hätten diese damals in etwa bei einer fünf gelegen. „Heute liegen sie bei einer 40 bis 50“, sagt er. Tendenz steigend.
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Noch sind noch gar nicht alle Maßnahmen in Kraft, doch die russische Bevölkerung spürt dennoch bereits die Auswirkungen. Der Rubel hat gemessen am Dollar in den vergangenen zwei Wochen mehr als die Hälfte seines Wertes verloren – eine Folge auch der Strafmaßnahmen gegen die russische Zentralbank, die die Währung nicht mehr stützen kann. „Sie hat die Kontrolle über den Rubel verloren“, sagt Aleksashenko. Damit werde langfristig das Vertrauen in den Bankensektor erodieren. „Schon jetzt bilden sich vor den Geldautomaten lange Schlangen“, so der ehemalige Notenbanker. „Wir stehen kurz vor einer Panik.“
Der Absturz der Währung trifft das von Importen abhängige Russland hart. Allein ein Viertel der verkauften Lebensmittel kommt aus dem Ausland. Im Nicht-Lebensmittel-Bereich liegt die Quote gar bei 50 Prozent. Ein niedrigerer Wechselkurs macht damit das Leben für die normalen Konsumenten schon deutlich teurer. Doch da enden die Maßnahmen nicht.
Es ist ja nicht nur die Sanktionierung des Finanzsektors, der die russische Wirtschaft zum Abstürzen bringen könnte. Auch dass das Land zunehmend von westlicher Technologie abgeschnitten wird, werde mittelfristig enorme Auswirkungen haben, so Aleksashenko. Derzeit treffen sie vor allem den Militär- und den Luftfahrtsektor, doch das kann sich ändern. „Wenn die Sanktionen ausgeweitet werden, kann Russland bald nicht einmal mehr Autos, Kühlschränke, Spülmaschinen oder Mikrowellen bauen“, sagt er. Dann dürfte in zahlreichen Fabriken des Landes das Licht ausgehen – mit heftigen Auswirkungen für die dort Beschäftigten.
Der Grund dafür ist die Bedeutung westlicher Industrieteile, deren Export nach Russland nun für einige Industriesektoren bereits untersagt wurde. Ohne Teile aus beispielsweise amerikanischer Fertigung wird es für Russland allerdings kaum möglich sein, seinen Produktionssektor aufrechtzuerhalten. „In einem russischen Kühlschrank mag nur ein winziges Teil aus amerikanischer Fertigung sein, aber wenn es nicht ersetzt werden kann, wird der Hersteller das ganze Gerät nicht bauen können“, sagt Aleksashenko. „Das wird für viele Russen katastrophal enden.“
Genau das scheint die Strategie des Westens zu sein: Die Wirtschaftssanktionen sollen Russland die wahren Kosten des Krieges in der Ukraine vor Augen führen und so den Druck auf den Kreml erhöhen, umzusteuern. Doch ob es so kommen wird, da traut sich Aleksashenko keine Prognose zu. Die rapide Geldentwertung und der dadurch sinkende Lebensstandard werde viele Russen zwar hart treffen, aber ob das Putin-Regime so destabilisiert werden kann, sei eine andere Frage. „In Venezuela ist der Lebensstandard um rund 60 Prozent gesunken, aber Maduro ist immer noch an der Macht“, sagt er. Und auch im Iran hätten sogar noch deutlich härtere Strafmaßnahmen nicht zu einem Sturz der Regierung gestürzt.
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