Wenn Sven Yeo aus den Fenstern des Konferenzraums guckt, in dem der 31-jährige Singapurer gerade einer Gruppe Europäern seine neueste Geschäftsidee erklärt, erblickt er die Hochhaus- und Betonkulisse Singapurs. Insofern ist es einigermaßen erstaunlich, dass ausgerechnet Yeo die Revolution der Landwirtschaft predigt. Wer dem Biologen aber länger zuhört, wie er Chart für Chart seiner Präsentation abarbeitet, lernt: Wer zur Avantgarde des Ackerbaus zählen möchte, muss nicht vom Land kommen.
Denn mit drei Freunden hat Yeo ein datengestütztes System für die städtische Landwirtschaft entwickelt. Die Idee: Im dicht bebauten Singapur müsse sich auf sehr kleinen Flächen der Anbau von Gemüse, Obst und Feldfrüchten betreiben lassen. Schließlich ist der Stadtstaat an der Südspitze Malaysias bisher zu nahezu 100 Prozent auf den Import seiner Lebensmittel angewiesen. Bei Yeos Geschäftsidee nun messen Sensoren in den Minifeldern auf Dächern und Terrassen der Hochhäuser Daten und sorgen für Düngung und Wasserzufuhr. „Das Salatbeet ist ans Internet angeschlossen“, lacht Yeo. Zurzeit verhandeln die Gründer mit einem Risikokapitalgeber über eine Finanzierung. Archisen, eine Kombination aus den englischen Wörtern Architecture und Sensing (abtasten), haben sie ihre Neugründung getauft. Erst vor wenigen Monaten haben sie Büros in einem Gründerzentrum im Südwesten Singapurs bezogen. An der Wand ein Schild: „No Rules here“. Hier soll aus Yeos Idee das große Geschäft werden.
So wollen es der Gründer und seine Partner, so will es vor allem aber die Singapurer Regierung. Gerade mal 5,7 Millionen Einwohner hat der Staat. Jahrelang hat das Land, das seit den Fünfzigerjahren von einer einzigen Partei ebenso autoritär wie wirtschaftlich erfolgreich regiert wird, in der Wirtschaftspolitik auf einen Dreiklang gesetzt: Eine Mischung aus Handel – man baute einen der größten Häfen der Welt –, Industrie – man schuf künstliche Inseln als Produktionsflächen – und Finanzwirtschaft – man errichtete eine der liberalsten Bankengesetzgebungen der Welt – sollte immerwährenden Wohlstand garantieren. Das klappte sechs Jahrzehnte sehr gut, der Staat gehört heute zu einem der reichsten Länder der Welt. Aber nun stockt der Welthandel, das Wachstum der industriellen Produktion in dem Ministaat ist ausgereizt, und die Finanzbranche muss auf internationalen Druck hin immer stärker reguliert werden. Von einer „derzeitigen wirtschaftlichen Schwäche“ spricht etwa Franz-Josef Kleideitert, Berater für Kienbaum in Singapur, mit Blick auf mäßige 1,5 Prozent Wirtschaftswachstum in diesem Jahr.
Deswegen treibt die Regierung nichts so sehr um wie die Frage, wovon Singapur in zwei Jahrzehnten leben wird. Ähnliches fragen sich zwar Regierungen in aller Welt – die Schweiz und Luxemburg etwa suchen nach Modellen, seitdem die Finanzbranche stärker reguliert wird, Ölförderländer wie Norwegen oder Saudi-Arabien nach neuen Wohlstandsquellen für ein Post-Carbon-Zeitalter –, aber kein Land der Welt treibt den Wandel politisch so ernst voran wie Singapur, wo man es von jeher gewohnt ist, Erfolge am Reißbrett zu planen. „Wir müssen uns ständig neu erfinden“, ist der mit Abstand meistgehörte Satz, spricht man mit Singapurer Regierungsvertretern.
Nun also soll die Digitalisierung neuen Schwung verleihen: Das Internet der Dinge, autonomes Fahren, Sensorik – damit soll Singapur künftig Geld verdienen.
Wettbewerb für mehr Exzellenz
Gabriel Lim ist so etwas wie der Prototyp des Singapurer Karrierebeamten. Das gestreifte Hemd ist perfekt gebügelt, der Scheitel sitzt ebenso perfekt, der Auftritt ist souverän. Lim, 40, ist Geschäftsführer der Infocomm Media Development Authority (IMDA), einer staatlichen Behörde, die die digitale Wirtschaft in Singapur fördern soll. An einem Vormittag im Mai sitzt er in einem Café in der Innenstadt von Singapur. „Es geht darum, dass wir relevant für den Rest der Welt bleiben“, sagt Lim, „und wir müssen ständig neu herausfinden, wie uns das gelingen kann.“
Drehscheibe für Bildung und Forschung
Wichtig für den Rest der Welt sein: Vor 15 Jahren hat das Land begonnen, Universitäten aus Europa und den USA ins Land zu locken. Die Regierung wollte den lokalen Hochschulen Konkurrenten aus dem Westen vor die Nase setzen und so den Wettbewerb anheizen. Das Ziel: Singapur zur Drehscheibe für Bildung und Forschung in Asien zu machen. Aus der Idee wurde ein Erfolg: Die TU München kam und eröffnete einen Campus, die private Hochschule Insead aus Frankreich und auch das MIT aus Boston. Die eigenen Hochschulen nahmen den Wettbewerb an und rangieren inzwischen unter den besten der Welt.
Den Erfolg will das kleine Land nun mit der digitalen Wirtschaft wiederholen. Und wie immer, wenn die singapurische Regierung einen Plan gefasst hat, setzt sie ihn auch gegen Widerstände durch. Das hat dem Stadtstaat zwar ein zweifelhaftes, weil autoritäres, politisches Regime gebracht – aber wirtschaftlich eine unvergleichbare Erfolgsgeschichte beschert. So jedenfalls sehen das große Teile der in- und ausländischen Wirtschaftscommunity vor Ort.
Lim erklärt es am Beispiel der amerikanischen Plattform Uber. Als der Fahrdienstanbieter vor Kurzem in Singapur an den Start gehen wollte, gab es, ähnlich wie in Deutschland, heftige Proteste der Taxifahrer. Sie beriefen sich auf existierende Gesetze und Richtlinien, ähnlich wie die deutschen auf das Personenbeförderungsgesetz von 1961. „Wir haben unsere Gesetze halt angepasst“, sagt Lim, „denn wir wollten Uber nicht die Tür vor der Nase zuschlagen.“ Ähnlich macht es die Regierung mit Start-ups aus der Finanzbranche. Fintechs brauchen erst ab einer kritischen Größe eine Zulassung der Finanzaufsicht.
Ausländische Unternehmen begrüßen solche Erleichterungen. Inzwischen unterhält Uber in Singapur seine Zentrale für die Region Asien-Pazifik, genauso wie der amerikanische Filme- und Serienanbieter Netflix und der Streamingdienst Spotify. Google steuert aus dem Inselstaat sein Marketing für den gesamten Fernen Osten. Auch Facebook beschäftigt 500 Mitarbeiter in Singapur. Die Schwergewichte aus dem Westen sind schon mal da.
Milliarden vom Staat
Der große Unterschied zu Europa und den USA aber ist: Während im Silicon Valley oder in Berlin findige Tüftler und Internetpioniere auf eigene Faust und oft mit wenig eigenem Geld in leer stehenden Fabrikhallen ihre ersten Firmen gründen, steuert in Singapur der Staat in großen Teilen die Gründerszene, gibt die Richtung vor – und ebnet vielversprechenden Start-ups wie dem von Sven Yeo mit großen Summen den Weg ins Geschäft.
Die fast unvorstellbare Summe von 30 Milliarden Dollar liegt in staatlichen Töpfen und öffentlich kontrollierten Risikokapitalfonds bereit, um junge Unternehmen mit vielversprechenden Geschäftsideen auf dem Feld der Digitalisierung zu unterstützen. Vor allem Fintechs sowie Unternehmen mit digitalen Lösungen für die Medizintechnik, die Robotik und städtische Mobilität will der Staat fördern.
Einer der großen Fonds für Wagniskapital in Singapur heißt Infocomm Investments Pte Ltd (IIPL). Der Topf ist mit 200 Millionen Dollar gefüllt und untersteht der IMDA, der Behörde von Gabriel Lim. Ein Viertel des Geldes ist bereits platziert, 150 Millionen Dollar kann Lim noch vergeben. Vielversprechende Geschäftsideen, sagt er, gebe es in Singapur reichlich, und verweist auf inzwischen etwa 5500 Technologie-Start-ups im Land.
Eines davon hat Anthony Tan gegründet. Tan ist im Nachbarland Malaysia geboren und hat in Harvard studiert. Vor vier Jahren hat der 34-Jährige das Unternehmen Grab gegründet – ein asiatisches Pendant zu Uber. Im Vergleich zum großen Konkurrenten aus den USA ist Grab noch klein: Das Start-up wird mit 1,6 Milliarden Dollar bewertet, Uber mit fast 70 Milliarden. Doch Grab wächst rasant. Das Unternehmen, das auch Kurierdienste anbietet und in den staugeplagten Metropolen der Region außerdem Motorradtaxis vermittelt, hat in 30 südostasiatischen Städten Fahrer auf den Straßen. Bei Uber sind es nur halb so viele.
Grab kennt den südostasiatischen Markt mit seinen 600 Millionen Konsumenten viel besser als der große Konkurrent aus Amerika. „Für Uber ist es schwer, maßgeschneiderte Angebote für die asiatischen Kunden zu entwickeln“, meint denn auch Florian Hoppe, Berater bei Bain & Company. So bietet Grab in der Grenzregion zwischen Singapur und Malaysia einen Carsharing-Service an. Ein lohnendes Geschäft: Viele Menschen, die in Singapur arbeiten, wohnen im preiswerteren Malaysia und müssen täglich pendeln.
Das Ziel: globale Champions
Dass Tan sich mit seinem Unternehmen, das bereits 1600 Mitarbeiter beschäftigt, nicht in seiner Heimat Malaysia, sondern in Singapur niedergelassen hat, ist kein Zufall. Der Staat konnte mit günstigen Büroräumen, exzellenter Infrastruktur, vor allem aber Zugang zu Kapital ködern: Grab hat bei Risikokapitalgebern bislang 700 Millionen Dollar eingesammelt. Für die Regierenden in Singapur ist das Unternehmen ein Topaushängeschild. „Südostasien kann auch eigene globale Champions schaffen“, sagt Gründer Tan mit Blick auf die Stars aus dem Westen wie Uber oder Airbnb.
Geht es nach den Regierenden in Singapur, wird auch das Changi General Hospital (CGH), mit 5500 Mitarbeitern eines der größten Krankenhäuser im Land, ein globaler Champion der digitalen Revolution. Lautlos schieben sich dort digital gesteuerte Roboter durch die Krankenhausflure. Sie transportieren Blut- und Urinproben. Treffen die Roboter auf einen Arzt oder eine Krankenschwester, bitten sie höflich darum, vorbeigelassen zu werden. Die Patienten im CGH liegen auf speziellen, mit Sensoren ausgestatteten Matten. Diese senden permanent Patientendaten auf einen Server. Pfleger und Ärzte können die Informationen über ihre Tablets abrufen.
„Schon seit Jahren investieren wir jährlich fünf Prozent unseres Umsatzes in den Ausbau der IT-Infrastruktur“, sagt Lee Chien Earn, CEO des Hospitals. Zuletzt lag der Umsatz des CGH bei umgerechnet knapp 470 Millionen Euro. Doch das ist nicht alles. Von staatlichen Stellen und Forschungseinrichtungen bekommt Lee noch einmal jedes Jahr einen hohen zweistelligen Millionenbetrag, um das Krankenhaus fit fürs digitale Zeitalter zu machen. Außerdem sucht das CGH gezielt die Zusammenarbeit mit Unternehmen. „Wir publizieren künftig unsere Probleme und Herausforderungen“, sagt Lee, „und fragen die Unternehmen, was sie uns zur Lösung entwickeln können.“
Mit kräftiger staatlicher Unterstützung kann auch das Start-up Nutonomy, eine Ausgründung des Bostoner MIT, rechnen. Das Unternehmen, das inzwischen 40 Mitarbeiter beschäftigt, entwickelt Software für das autonome Fahren. Nach Singapur gingen die Tüftler, weil die Regierung ihnen dort den roten Teppich ausrollte. „Mit bis zu 100 Millionen Dollar Förderung“ könne man rechnen, sagt einer der Nutonomy-Gründer. „Nirgendwo auf der Welt unterstützen die Behörden Technologie-Start-ups so wie in Singapur“, ergänzt Nutonomy-Chef Karl Iagnemma. Die Regierung hat sich das Ziel gesetzt, weltweit führende Nation bei Testprojekten zum autonomen Fahren zu werden. Gerade hat das singapurische Verkehrsministerium eine Partnerschaft mit den Gründern aus Boston unterschrieben. Auch Uber und BMW haben bei den singapurischen Behörden Vorschläge für Pilotversuche zum autonomen Fahren eingereicht.
Geld hat Singapur reichlich, um die digitale Revolution voranzutreiben. An ausreichend Know-how dagegen fehlt es trotz großer Fortschritte im Bildungswesen noch immer. Der Staat setzt darum auch auf Kooperationen mit dem Ausland.
Steve Leonard wurde in Großbritannien geboren, lebt aber seit mehr als zehn Jahren in Asien. In der internationalen Techszene kennt er sich aus wie kaum ein anderer. Seit dem Frühjahr dieses Jahres reist Leonard im Auftrag von Lims Behörde, der IMDA, unermüdlich um den Globus: Der Brite soll Ausschau halten nach möglichen Partnern für singapurische Start-ups. „In Boston suche ich nach Kooperationen mit Leuten aus der Biotechszene“, sagt Leonard, „in London schaue ich mir vor allem Fintechs an, und Berlin ist gut beim Künstlerisch-Kreativen.“
Sicher, sagt Leonard, anders als in anderen Ländern, wo ungewöhnliche Ideen und Eigeninitiative Neues hervorbrächten, treibe in Singapur vor allem der Staat die Gründerszene. Aber: „Die Regierung versucht, sich bei jedem Projekt so früh wie möglich zurückzuziehen.“ Probleme sieht der Brite an anderer Stelle: Es fehle in Singapur eine Kultur des Scheiterns. Leonard sagt: „Die Leute haben Angst, sich auf die Bühne zu stellen und zu sagen ‚ist halt schiefgegangen‘.“
Bei Weitem nicht alle Vorstöße Singapurs für internationale Kooperationen sind erfolgreich. So versuchten die Behörden etwa mit dem Zentrum für Innovation und Gründung der TU München ins Gespräch zu kommen. Doch die Asiaten holten sich eine Abfuhr – die Münchner orientieren sich Richtung Silicon Valley. Auch weil dort oftmals die vielversprechenderen Ideen geboren werden.
Sicher, Singapur ist längst nicht mehr der gefürchtete Nanny-Staat, der seine Bürger rund um die Uhr bevormundet und vom Kaugummi bis zur Aktfotografie so ziemlich alles verbietet, was aus dem Westen kommt. Doch Kreativität, die Lust am Umbruch – all das sind Dinge, die nur staatlich gesteuert passieren. Frei entfaltet sich in dem Staat selten etwas. Symptomatisch dafür ist der Unterricht an Singapurs (Hoch-)Schulen, wo Auswendiglernen noch immer wichtigste Disziplin ist. Und so ist der Stadtstaat auch ein Gegenmodell zur liberalen, ungesteuerten Digitalisierung im Westen. Die Frage ist, welcher Ansatz sich besser entfaltet.
Archisen-Gründer Sven Yeo etwa hat die Schattenseiten der staatlich verordneten Digitaloffensive kennengelernt: In Singapur wuchere die Bürokratie. Yeo: „Die Vorschriften zum Brandschutz und zum Zugang zu Dächern sind wahnsinnig kompliziert.“