Spitzentreffen in Paris Brexit verringert EU-Sehnsucht des Balkans

Westbalkan-Gipfel in Paris: Spitzenpolitiker beraten heute über die potenziellen EU-Beitrittskandidaten. Das Brexit-Votum verunsichert allerdings die Balkanländer. Russlandtreue Kreise wittern Morgenluft.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Der Brexit könnte von manchem Balkan-Land als Signal begriffen werden, sich lieber Moskau zuzuwenden. Quelle: Reuters

Belgrad Russlandfreunde in Serbien waren nach dem Brexit-Referendum rasch dabei, die Europäische Union für tot zu erklären. Sie legten Blumen vor dem EU-Gebäude in Belgrad nieder, zündeten Kerzen an und verkündeten, dass die Bemühungen des Landes um einen Beitritt zum 28-Staaten-Club null und nichtig seien.

War die höhnische Sterbeurkunde, die eine dem Kreml nahestehende Gruppe veröffentlichte, gewiss voreilig, werden sich Serbien und andere Balkanländer wohl auf mehr Hürden und Verzögerungen auf ihrem Weg in die EU einstellen müssen. Und das könnte Folgen haben.

In Paris kommen ab 17 Uhr Spitzenpolitiker des Westbalkans mit ihren EU-Kollegen zusammen. Dabei soll es unter anderem um den Reformprozess der potenziellen EU-Beitritts-Kandidaten gehen. Zu dem Treffen im Élysée-Palast werden die Staats- und Regierungsspitzen von Serbien, Albanien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und dem Kosovo erwartet. Mit dabei: die wichtigsten Politiker der EU, Deutschlands, Österreichs und einiger anderer Unionsländer.

Die Verheißung einer EU-Erweiterung Richtung Osten und die damit verbundene Aussicht auf Stabilität in einer Staatengemeinschaft hatten dazu beigetragen, die brutalen Kriege der 1990er Jahre auf dem Balkan zu einem Ende zu bringen. Jetzt, da sich die Hoffnungen auf einen Beitritt zumindest für die nahe Zukunft verringert haben, wittern russlandtreue Europagegner Morgenluft. Sie sehen einen neuen Hebel, den Zug ganz anzuhalten.

Serbien, Montenegro, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Albanien sowie das Kosovo sind auf ihrem Weg zum erhofften EU-Beitritt bislang unterschiedlich weit vorangekommen. Sie alle haben erklärt, dass Großbritanniens EU-Austritt ihre Bemühungen um eine Mitgliedschaft nicht schmälern werde. Aber ihre politischen Führungspersonen räumten zugleich ein, dass eine geschwächte EU vielleicht nicht mehr so attraktiv sein könnte, wie sie es war.

„Dies ist das größte politische Erdbeben seit dem Fall der Berliner Mauer“, sagte Serbiens Regierungschef Aleksandar Vucic. „Es gibt keinen Zweifel daran, dass es bedeutende Konsequenzen haben wird, nicht nur kurzfristig, sondern auch auf lange Sicht. Was der Kurs bei der EU-Erweiterung sein wird, kann ich Ihnen derzeit nicht sagen.“

Serbien ist der einzige wirkliche Verbündete in der Region, der Russland noch geblieben ist – und daher für Moskau strategisch wichtig. So ist das Land ununterbrochener Propaganda und Druck aus dem Kreml ausgesetzt gewesen, prowestliche Ambitionen fallenzulassen. Russische Offizielle gingen sogar so weit, ein Referendum in Serbien über den EU-Beitrittsantrag zu fordern – mit starken historischen Verbindungen zwischen den beiden slawischen Nationen im Hinterkopf.

„Der Brexit ist keine gute Nachricht für die Länder in der Region, insbesondere Serbien, das die engsten Bande mit Russland hat“, sagt Jelica Minic von der proeuropäischen Organisation European Movement in Serbia. Sie weist auf jüngste Umfragen hin, die zeigten, dass die Serben größtenteils Euroskeptiker seien und sich zunehmend Moskau zuwendeten. „Serbien gleitet gefährlich in Richtung Russland.“


Umtriebiges Moskau

Moskau war auch in Bosnien-Herzegowina sehr aktiv, insbesondere im bosnisch-serbischen Teil, der Bemühungen der Muslime und Kroaten im Land um einen EU- und Nato-Beitritt blockiert hat. Über lange Jahre hinweg haben viele in Bosnien die EU-Mitgliedschaft für ein lohnenswertes Ziel gehalten und sich davon Stabilität in ihrem persönlichen Leben versprochen.

Aber das Brexit-Votum ruft bei manchen schlechte Erinnerungen an den Zerfall Jugoslawiens hervor. „Das wird nicht gut enden. Ich sehe nichts Gutes in der Zukunft“, sagt etwa Zuhra Coric in Sarajewo mit Blick auf den britischen Schritt.

Die bosnische politische Analystin Ivana Maric sieht es weniger düster. Sie glaubt, dass der Brexit am Ende sogar positive Auswirkungen haben könnte. Die Briten seien niemals völlig integriert gewesen, und ihr Ausscheiden könne vielleicht bewirken, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl der übrigen EU-Staaten wachse. Allerdings sei es möglich, dass sich die Osterweiterung verzögere, sagt sie.

Mazedonien ist seit 2005 ein EU-Beitrittskandidat, aber Griechenland hat den Weg in die Union im Zuge des Streits um den Namen des Staates blockiert. Mazedoniens Präsident Djordje Ivanov ist „sehr besorgt“, dass nach Großbritannien noch andere Staaten aus der EU abspringen könnten. „Wir, die ältere Generation, haben die Tragödie des früheren Jugoslawien erlebt, wo es ebenfalls ein System kollektiver Entscheidungen gab. Wo ist dieser Staat jetzt? Wir sind beunruhigt, dass die Europäische Union vielleicht denselben Weg geht.“

Die Prorussen in der serbischen Hauptstadt Belgrad sind indes voller Schadenfreude. In der von ihnen verbreiteten „Todesnachricht“ hieß es: „Wir informieren die Bürger von Serbien darüber, dass die Europäische Union nach langer und schwerer Krankheit im Alter von 59 gestorben ist.“

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%