Staatsbesuch aus Afghanistan Die nächste Flüchtlingswelle rollt

Die Afghanen trauten ihrem Präsidenten Ashraf Ghani zu, das Land zu Frieden und Prosperität zu führen – bis die Taliban zurückkamen. Jetzt schlittert der Hindukusch erneut in einen Bürgerkrieg.

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Merkel Ghani Quelle: dpa

Unter den Staatschefs aus islamischen Ländern, die die Bundesregierung übers Jahr in Berlin empfängt, dürfte Ashraf Ghani mitunter die beste Figur abgeben: Der afghanische Präsident ist kein König, sondern Demokrat, kein religiöser Eiferer, sondern pragmatischer Technokrat, kein Machtpolitiker, sondern Reformer. Das gibt es selten im Nahen und Mittleren Osten, wenn man ehrlich ist.

Der Paschtune Ashraf Ghani studierte an US-Eliteunis Politologie und Kulturanthropologie. Als Experte der Weltbank unterstützt er Russland, Indien und China bei der Wirtschaftstransformation. Er wusste also längst, wie man einer Volkswirtschaft auf solide Säulen stellt, als er Anfang der Nullerjahre zurück nach Kabul kam und nach Stationen als UNO-Sondergesandter und Finanzminister im September 2014 zum Präsidenten aufstieg.

Aus diesen Ländern kommen Asylbewerber in Deutschland

Erfolgreich war Ashraf Ghani bisher trotzdem nicht. Vielmehr wird er Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) heute vor einem neuen Krieg in Afghanistan warnen – und wohl auch um verstärkte militärische wie wirtschaftliche Hilfe bitten müssen. Kaum ein Jahr nach dem Abzug des Großteils der ISAF-Schutztruppen westlicher Nationen kippt das Land mit seinen knapp 30 Millionen Einwohnern erneut in einen Bürgerkrieg, den die islamistischen Taliban anfeuern.

Dabei sah es vor einem Jahr noch so gut aus! Ashraf Ghani hatte eine „Regierung der nationalen Einheit“ übernommen, die sich neben der Sicherheitspolitik auch dem Kampf gegen Korruption und der Unterstützung der Landwirtschaft verschrieben hatte. Er bemühte sich um ein Friedensabkommen mit den Taliban, der vor allem im Norden aktiven Islamisten-Gruppe.

Was durchaus machbar erschien: Zum einen verloren die Taliban mit dem Abzug westlicher Truppen ihren größten Feind. Zum anderen übernahm mit Ghani ein Paschtune, der anders als Vorgänger Hamid Karzai nicht als Marionette des Westens wahrgenommen wurde.

Niemand weiß genau, was schiefgelaufen ist. Aber die vorübergehende Einnahme der Stadt Kundus durch die Taliban im Oktober bewies auch den optimistischsten Friedenstauben: Die Verhandlungen sind gescheitert – und, schlimmer noch: Die Terrorgruppe, die ein regionales Kalifat in Zentralasien einrichten will, ist offensichtlich wieder erstarkt. Weder Militärschläge der ISAF-Partner noch Soldaten der von ihnen ausgebildeten afghanischen Armee haben dies verhindern können.

Schnelle Flucht durch offene Grenzen

Kämpfe zwischen Taliban und reaktivierten lokalen Milizen schlagen immer mehr Menschen auch aus Afghanistan in die Flucht: Ab Kabul kann man per Bus über den Iran und die Türkei nach Deutschland fahren – keine Woche dauert es, bis die Afghanen in München sind. Die offenen Grenzen Pakistans, des Iraks, Irans und der Türkei machen die freie Fahrt erst möglich. Je blutiger die Konflikte in Afghanistan werden, so viel steht fest, desto höher sind die Erfolgsaussichten des Asylantrags in Deutschland.

In der Folge hat die Nato bereits den Truppenabzug aus Afghanistan gestoppt: Deutschland will sein Engagement dort sogar ausweiten und statt 850 bis zu 980 Soldaten am Hindukusch stationiert lassen – wenn auch vorwiegend zu Ausbildungszwecken.
Militärische Hilfe allein wird die Bürgerkriegsgefahr allerdings nicht bannen, glaubt Jan Koehler, Afghanistan-Experte an der Freien Universität Berlin: „Ein entscheidender Grund für die Eskalation ist, dass Nachbarstaaten wie Pakistan und Iran auf Afghanistan Einfluss ausüben wollen und dort bewaffnete Gruppen unterstützen.“

Westliche Diplomaten könnten auf Teheran und Islamabad einwirken, auf dass solcherlei Krieg und Chaos stiftende „Nachbarschaftspolitik“ ein Ende findet. Wobei gerade die Deutschen, die am Hindukusch niemals Kolonialmacht waren und mit aktiver Entwicklungshilfe in den Ländern sehr präsent sind, im regionalen Beziehungsgeflecht womöglich glaubwürdigere Vermittler wären als die USA.

Afghanistan-Kenner Koehler jedenfalls weiß aus eigener Feldforschung: „Die Afghanen sind sehr an einem starken Staat als Stabilitätsgarant interessiert.“ Trotz verbreiteter Korruption sei eine handlungsfähige Regierung als ordnungspolitische Instanz erwünscht – und nicht die Zersplitterung des ganzen Landes in Stammes- oder Volksgruppen.

Immerhin einen Hoffnungsschimmer gibt es für Afghanistan: Seit dem Abzug der Mehrzahl der internationalen Truppen ist die Wirtschaft des Landes nicht völlig kollabiert. Für die Dörfer im Norden, die Koehler und sein Team von der FU Berlin regelmäßig besuchen, gelte sogar das Gegenteil: „Die Landwirtschaft entwickelt sich günstiger, nachdem sie von vorherigen Regierungen stark vernachlässigt wurde.“ Zudem profitiere die Landbevölkerung vom Anbau von Schlafmohn, dessen Verarbeitung zu Heroin und dem Schmuggel in Richtung Tadschikistan und Pakistan.

So sehr man im Westen auch die Nase rümpfen mag, Jan Koehler sagt: „Die illegale Drogenwirtschaft ist wenig monopolisiert, die Landbevölkerung profitiert auch von den Einnahmen.“ Darum geht auch niemand gegen diese Schattenwirtschaft vor – auch nicht der saubere Herr Ashraf Ghani. Zumal der im Moment größere Probleme hat.

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