Als erstes mussten die Hühner geopfert werden. Das Futter für sie war aufgebraucht. 70 Millionen Hühner und Küken wurden seit Beginn des Streiks der brasilianischen Lkw-Fahrer vor neun Tagen bereits notgeschlachtet. Im Netz kursieren Videos, auf denen sich Hühner in den Lege- und Mastbatterien gegenseitig fressen. Die Kühlhäuser der Schlachthäuser sind voll, weil die für den Export bestimmten Schweinehälften und Geflügelteile nicht abtransportiert werden können. Molkereien verfüttern Milch an Schweine. Doch bald dürften auch die ersten Schweine wegen fehlender Nahrung dran glauben.
Brasiliens Lebensmittelindustrie ist eine gewaltige, perfekt eingestellte Export-Maschine, bei der es keinen Ausfall geben darf, weil sonst die gesamte Wertschöpfungskette zusammenbricht. Die Industrie ist darauf eingestellt, täglich 21 Millionen Hühner und 150.000 Schweine zu schlachten und zu verarbeiten.
Doch auch sonst geht nichts mehr in der brasilianischen Landwirtschaft, dem nach den USA größten Lebensmittelzulieferer für den Weltmarkt. Die Zuckerfabriken im Südwesten Brasiliens stehen still, weil es keinen Diesel mehr gibt für die Erntemaschinen. Auch die Zelluloseproduzenten haben ihre Produktion eingestellt. Kein Frachtschiff mit Kaffee, Orangensaftkonzentrat, Soja oder Zucker verlässt derzeit die brasilianischen Atlantikhäfen.
Der Stillstand in der brasilianischen Agroindustrie ist eine Katastrophe für die Wirtschaft, die gerade eine dreijährige Rezession hinter sich gelassen hat. Die letzten Jahre sorgten vor allem die Exporte von Brasiliens Farmen, dass die Konjunktur nicht noch mehr eingebrochen war. Doch nun haben die Investmentbanken wegen des mehr als eine Woche andauernden Streiks die Wachstumsaussichten für dieses Jahr auf unter zwei Prozent herabgesetzt – vor kurzem rechneten sie noch mit drei Prozent Wachstum in 2018. Die jüngsten Konjunkturprobleme sind besonders brisant. Sollte nun nach den Finanzturbulenzen in Argentinien und den Dauerproblemen in Venezuela auch noch Brasilien als größte Volkswirtschaft der Region in Schwierigkeiten kommen, könnte sich das zu einer neuen Schwellenländerkrise in Südamerika entwickeln. „Auch wenn der Streik bald beendet sein sollte, wird der Schaden noch zunehmen“, sagt José Francisco de Lima Gonçalves von Banco Fator. „Es wird dauern, bis die Konsumenten, Investoren und Unternehmer wieder Vertrauen fassen werden.“
Doch derzeit sieht es nicht danach aus, als ob der landesweite Streik bald beendet sein wird. Bereits dreimal ist die Regierung auf die Forderungen der Gewerkschafter eingegangen nach Senkungen der Treibstoffpreise. Inzwischen haben die Trucker garantiert bekommen, dass die Dieselpreise zwei Monate nicht mehr angehoben werden. Sie können künftig Mindesttarife für ihre Speditionsleistungen bekommen. Ihnen wurden Steuererleichterungen versprochen und sogar in einer Sonderausgabe des Amtsblattes der Union noch Mitternacht auf Sonntag veröffentlicht.
Streik in Brasilien: Das Wichtigste in Kürze
Die Proteste der brasilianischen Lkw-Fahrer richten sich gegen den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras und die hohen Treibstoffpreise. Allein im Mai waren der Benzinpreis in der größten Volkswirtschaft Lateinamerikas um etwa 12 und der Dieselpreis um 9,3 Prozent gestiegen. Trotz Zugeständnissen der Regierung setzen die Fernfahrer ihren Protest fort und legen mit Blockaden weite Teile des Landes lahm.
In Brasilien wird der Großteil der Güter mit Lastwagen transportiert. Wegen des Streiks blieben viele Tankstellen ohne Benzin, in den Supermärkten wurde die Ware knapp. Auch zahlreiche Fabriken mussten die Produktion einstellen, weil das benötigte Material nicht eintraf.
Präsident Michel Temer lenkte ein und senkte die Dieselpreise. Der Preis für Diesel und die Mautgebühren soll für zwei Monate gesenkt werden. Nach Temers Ankündigung bracht der Aktienkurs des Ölkonzerns Petrobras um 14 Prozent ein. „Die Regierung wird die Kosten im Haushalt berücksichtigen und den Preisunterschied ausgleichen. Petrobras wird keine Nachteile haben“, sagte Temer. Finanzminister Eduardo Guardia schätze, dass die Preissenkung beim Diesel die Regierung rund 9,5 Milliarden Reais (2,2 Milliarden Euro) kosten wird.
Doch vergeblich: Die Mehrheit der Fahrer hält sich einfach nicht daran, was in Brasilia beschlossen wurde. Selbst als die Regierung Donnerstag vergangener Woche damit drohte, das Militär einzusetzen, um die Blockaden zu räumen, bewegten sich die Trucker nicht. Fast überall im fünftgrößten Land der Welt blockieren weiterhin Lkw die Straßen in die Großstädte – und verhindern die Versorgung mit Treibstoffen, Lebensmitteln und Medikamenten. Während die Gewerkschaften ihre Mitglieder dazu aufrufen, den Streik beizulegen, kommen einzelne Fahrer in den Interviews mit immer neuen Forderungen.
Die Lage droht unkontrollierbar zu werden: So fehlen in fast allen Städten Brasiliens inzwischen Benzin, Ethanol und Diesel. Die Tanklaster kommen weder aus den Raffinerien heraus noch zu den Tankstellen hin. Nicht nur privaten Autofahrern fehlt der Sprit. Inzwischen geht er auch Polizei, Feuerwehr und den Krankentransportern aus. Die Busgesellschaften lassen einen Teil ihrer Flotten in den Garagen. Ein Dutzend Flughäfen ist das Kerosin ausgegangen, berichtet der staatliche Flughafenbetreiber Infraero. Etwa fünf Prozent der Flüge werden täglich gestrichen. In den Supermärkten gibt es kaum noch Gemüse und Obst, Milch und Fleisch. In Krankenhäusern werden Dialysepatienten vertröstet. Chirurgische Eingriffe werden verschoben, bis auf Notoperationen.
Fabriken müssen die Arbeiter wegschicken, Universitäten bleiben leer – auf Seite 2 lesen Sie, welche Schäden der Streik anrichtet