Streit um Sonderstatus Nordirland: Im schlimmsten Fall droht ein Handelskrieg mit der EU

Droht die Aufkündigung der Brexit-Sonderregeln für Nordirland? Quelle: dpa

Die Regierung in London könnte noch diese Woche einen schweren Streit mit der EU vom Zaun brechen. Im Zentrum steht wieder einmal Nordirland. Dabei hat die Region von ihrem Sonderstatus profitiert.

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Nordirland erlebt derzeit einen Wirtschaftsboom. Unternehmen in der langjährigen Unruheregion berichten von vollen Auftragsbüchern und einem regen Handel mit der EU. Der Grund dafür ist, ausgerechnet, der Brexit. Genauer gesagt: der Sonderstatus, den Nordirland seit dem EU-Austritt genießt.

Festgeschrieben ist dieser Status im so genannten Nordirland-Protokoll des Brexit-Abkommens: Die Region gehört weiterhin zum Vereinigten Königreich, blieb aber nach dem Brexit wirtschaftlich eng an die EU angebunden. Nordirische Unternehmen haben somit einen privilegierten Zugang sowohl zum Binnenmarkt der EU als auch zum britischen Markt.

In den vergangenen zwei Jahren sind zudem viele Firmen in der Republik Irland, die zuvor Waren aus Großbritannien bezogen haben, auf Lieferanten in Nordirland umgestiegen. Das gab der Region einen weiteren Schub.

Doch der wirtschaftliche Aufschwung könnte schon bald ins Stocken geraten. Denn die Regierung in London trifft derzeit allem Anschein nach Vorbereitungen für eine Konfrontation mit der EU, an deren Ende ein Handelskrieg stehen könnte.

Denn sowohl pro-britische Unionisten in Nordirland als auch viele Brexit-Hardliner in London stören sich zunehmend am Nordirland-Protokoll. Denn es sieht Güterkontrollen vor, die durchgeführt werden müssen, wenn bestimmte Waren von Großbritannien nach Nordirland geschickt werden. Die EU hat Lockerungen bei diesen Kontrollen angeboten, die so gestaltet worden sind, dass britische Waren nicht unkontrolliert über Nordirland im EU-Binnenmarkt landen. Der Regierung in London geht das offenbar nicht weit genug.

So erklärte Außenministerin Liz Truss diese Woche, die Vorschläge aus Brüssel reichten nicht aus. London habe immer „eine Verhandlungslösung“ vorgezogen. Man werde sich aber nicht scheuen, „Maßnahmen zu ergreifen, um die Lage in Nordirland zu stabilisieren“. Premier Boris Johnson – der das Brexit-Abkommen seinerzeit unterzeichnet und seinen Landsleuten als „exzellent“ angepriesen hat – legte am Mittwoch gar nahe, dass das Protokoll den Friedensprozess in Nordirland in Gefahr bringe. Das Karfreitagsabkommen aus den Neunzigerjahren, das den jahrzehntelangen Konflikt formell beendet hat, sei „das wichtigere Abkommen“, fügte er hinzu. „Weil es älter ist.“

Am Donnerstag möchte Außenministerin Truss EU-Vizekommissionschef Maroš Šefčovič bei einem Treffen ein weiteres Mal zu Zugeständnissen bewegen. Ein Durchbruch wird allerdings auch bei diesem Treffen nicht erwartet. Danach könnte es ganz schnell gehen: Bereits am Freitag könnte Johnson ein Gesetz auf den Weg bringen, mit dem London Teile des Protokolls einseitig aufheben würde.

Damit würde London einen Vertragsbruch begehen. Die Folgen wären schwere Verwerfungen mit Brüssel, Dublin und wohl auch mit Washington, wo man die Entwicklungen in Sachen Nordirland aufmerksam verfolgt. Im schlimmsten Fall droht sogar ein Handelskrieg mit der EU.

Einige britische Medien berichten, dass Johnson Insidern zufolge gewillt sei, das drohende Chaos in Kauf zu nehmen. Denn sein Job ist wegen der Affäre um illegale Lockdown-Partys in der Downing Street und einer heftigen Wahlschlappe seiner Partei bei den Kommunalwahlen vergangene Woche gefährdet. Alles, was den krawalligen rechten Rand in seiner Tory-Partei besänftigt und die Medien des Landes ablenkt, käme ihm wohl gelegen.



Den genauen Zeitpunkt für die Konfrontation dürften Nordirlands pro-britische Unionisten vorgegeben haben. Sie befürchten (und das nicht zu Unrecht), dass die dadurch geschaffene Seegrenze Bestrebungen um eine Wiedervereinigung der Region mit der Republik Irland Auftrieb geben könnte.

Vergangene Woche kam dann die Gewissheit: Bei den Wahlen zum Regionalparlament gewann zum ersten Mal eine pro-irische Partei – die Sinn Féin – die meisten Sitze. Die Democratic Unionist Party (DUP), die größte pro-britische Partei in der Region, blockiert seitdem die Bildung einer Regionalregierung, an der gemäß dem Friedensabkommen Parteien von beiden Seiten beteiligt sein müssen. Ihre Forderung: London müsse das Nordirland-Protokoll außer Kraft setzen.

Für die nordirische Wirtschaft wäre ein Handelskrieg mit der EU besonders bitter. So hat sich Nordirland laut offiziellen Zahlen bereits im vergangenen Sommer weitgehend von den Folgen der Pandemie erholt. Im Rest des Landes war die Wirtschaft zur selben Zeit noch um 1,8 Prozent kleiner als 2019. In einigen britischen Regionen, die stark auf das fertigende Gewerbe angewiesen sind – wie etwa den West Midlands – war die Wirtschaft noch immer um ein Zehntel kleiner als vor Covid.

Beim Handel wird besonders stark deutlich, wie sehr Nordirland von seiner anhaltend engen Anbindung an die EU profitiert: Die Region legte beim Warenverkehr mit der EU im vergangenen Jahr um geschlagene 60 Prozent zu. Das Vereinigte Königreich als Ganzes büßte dagegen beim Handel mit der EU ein: Laut einer Studie der London School of Economics (LSE) gingen die britischen Importe aus der EU im vergangenen Jahr, verglichen mit Handelsbeziehungen mit Nicht-EU-Staaten, um ein Viertel zurück. Das Gesamtvolumen britischer Exporte in die EU blieb zwar einigermaßen stabil. Doch die Zahl der individuellen Handelsbeziehungen ging laut der Studie zurück. Und auch die Zahl der exportierten Warengruppen sank. Vor allem kleinere Unternehmen haben ihre Exporte in die EU oft ganz eingestellt, glauben die LSE-Forscher.

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