Studie zu Arztbesuchen Länger leben

Weniger Operationen und Klinikaufenthalte, erhebliche Einsparungen für Krankenkassen: Mehr Macht für Hausärzte zahlt sich aus, wie eine neue Studie bescheinigt. Dabei gibt es an dem Hausarztmodell jede Menge Kritik.

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Facharztbesuche sind teuer – und oft überflüssig. Quelle: dpa

Berlin Wer seinen Hausarzt Ernst nimmt, lebt besser. Es zahlt sich für Patienten aus, wenn sie bei Krankheiten zuerst zum Hausarzt gehen und sich von ihm erzählen lassen, wo sie zur weiteren Behandlung hingehen sollen. Das ergibt eine aktuelle Studie zu den Haus- und Facharztverträgen der AOK Baden-Württemberg. In solchen Fällen kommen die Patienten seltener ins Krankenhaus, es gibt weniger Amputationen bei Diabetikern und die Lebensqualität steigt. Ganz nebenbei spart die AOK durch die bessere Koordinierung der verschiedenen Behandlungsebenen Hausarzt, Facharzt und Klinik auch noch Geld. 

Die von der Politik vor einigen Jahren eingeführte Verpflichtung für jede Krankenkasse, ihren Versicherten ein so genanntes Hausarztmodell anzubieten, ist bis heute umstritten. Das Ganze koste viel Geld, ist ein Kritikpunkt. Denn Hausärzte, die an dem Modell teilnehmen, erhalten ein höheres Honorar als in der Regelversorgung. Die Hauptkritik betrifft aber mögliche Vorteile für die Patienten: Es sei fraglich, ob Versicherten bei ihrer Selbstverpflichtung, nicht mehr direkt zum teuren Facharzt zu gehen, profitieren. Am Ende rechne sich das Ganze weder für die Patienten noch für die Krankenkassen – so wird bemängelt.

Daher ist die AOK Baden-Württemberg mit ihren 4,1 Millionen Versicherten bis heute die einzige Kasse, die das Hausarztmodell ernsthaft umgesetzt hat – und Hausärzte zu Lotsen durch den Angebots-Dschungel gemacht hat. Der Praxistest geht bereits ins neunte Jahr und hat offensichtlich Erfolg. Das legt zumindest die Studie zweier Forscher der Universitäten Frankfurt/Main und Heidelberg nahe, die am Mittwoch veröffentlich wurde.

Danach hat die „hausarztzentrierte Versorgung“ bei den 1,4 Millionen teilnehmenden Versicherten schwere Komplikationen und Krankenhauseinweisungen verhindert. „Bei 119.000 Diabetikern konnten im Verlauf von drei Jahren gut 1700 Komplikationen wie Fußamputation, Erblindung oder Schlaganfall vermieden werden“, so Ferdinand Gerlach von der Universität Frankfurt/Main.

Pro eine Million Versicherte gab es zwischen 2011 und 2014 gut  40.000 weniger Klinikeinweisungen als in der Regelversorgung mit freier Arztwahl. Allein 3900 Herzkranken sei wegen besserer Betreuung die Klinik erspart geblieben. Die Zahl der Operationen an Magen und Darm habe um 30 Prozent niedriger gelegen, sagte Joachim Szecsenyi, Versorgungsforscher von der Uni Heidelberg.


Viel Lob von den Ärzten

2008 startete die AOK-Baden-Württemberg bundesweit den ersten Hausarztvertrag. Von Anfang an wurde die Umsetzung von Wissenschaftlern begleitet. Positive Effekte stellten sie gleich von Beginn an fest. Doch noch nie seien die Vorteile so deutlich zu Tage getreten wie heute, so AOK-Chef Christopher Hermann. Das habe auch damit zu tun, dass die Kasse den Hausarztvertrag, an dem derzeit 4000 der 6000 Hausärzte im Ländle teilnehmen, längst durch verschiedene Facharztverträge ergänzt hat. Damit wurde es möglich, bei verschiedenen Krankheitsbildern die Koordinierung der Versorgung noch einmal zu verbessern.

Hausärzte, die sich einschreiben, erhalten ein verlässlicheres und höheres Honorar unter anderem dafür, dass Patienten sich in sogenannte Chroniker-Programme einschreiben. Die gibt es zum Beispiel für Diabetiker. Der Blutzucker wird in solchen Programmen besonders engmaschig kontrolliert. Patienten werden geschult, wie sie durch Sport und gesunde Ernährung den Verlauf der Krankheit positiv beeinflussen können. Von den Diabetikern, die sich in ins Hausarztprogramm eingeschrieben haben, entschieden sich laut Studie doppelt so viele, an einem solchen Programm teilzunehmen wie in der Regelversorgung.

Die Sonderverträge mit den Fachärzten sind unter anderem dafür verantwortlich, dass in der hausarztzentrierten Versorgung weniger Versicherte im Krankenhaus landen. Warum das klappt, hat auch mit Geld zu tun, erläutert Werner Baumgärtner, Vorstandsvorsitzender des Ärztenetzwerks MEDI.  „In der Regelversorgung ist es so, dass der Facharzt den Patienten so lange behandelt, bis er das mit der Krankenkasse ausgehandelte maximale Honorar, das so genannte Regelleistungsvolumen, ausgeschöpft hat. Danach schickt er ihn ins Krankenhaus.“ Der Facharztvertrag sorge nun schlicht dafür, dass er ein Zusatzhonorar bekommt, wenn er den Patienten weiter behandelt. Überflüssige Krankenhauseinweisungen würden so vermieden.

Auch mit der Medikamentenversorgung klappt es offenbar besser. Hier arbeitet der Hausarztverband mit Qualitätszirkeln, um die Ärzte über neue Medikamente und deren optimalen Einsatz zu informieren. Ein Ergebnis sei, dass es weniger oft zum Einsatz zu vieler und nicht richtig aufeinander abgestimmter Medikamente bei älteren Patienten komme, so Versorgungsforscher Joachim Szecsenyi . „Bei Patienten mit Depressionen kommen  Psychopharmaka gezielter zum Einsatz.“ Fehlbehandlungen seien deutlich seltener als in der Regelversorgung.

Und rechnet es sich? „Unsere Haus- und Facharztverträge sind keine Sparverträge“, sagte dazu AOK-Chef Christopher Hermann. Doch 2015 seien bei Ausgaben von 530 Millionen Euro 35 Millionen im Vergleich zur Regelversorgung gespart werden.  Auch Berthold Dietsche, Chef des Hausarztverbands, ist voll des Lobes. Nach anfangs großer Skepsis, alle würden zu AOK-Ärzten gemacht, sei heute die Zustimmung sehr hoch.  „Eine Hausarztpraxis, die nicht im Hausarztvertrag ist, wäre inzwischen unverkäuflich.“ Ein größeres Lob für Hermanns Projekt ist kaum denkbar.

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