Südamerika Brasilien taumelt in die Krise

Die größte Volkswirtschaft Südamerikas wollte als Olympia-Gastgeber glänzen. Nun erschüttert ein Korruptionsskandal die politische Führung. Niemand weiß, wie es weitergehen soll.

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Brasilien: Ein Korruptionsskandal erschüttert die größte Volkspartei Südamerikas. Quelle: Laif

Der brasilianische Banker Roberto Setubal hat noch nie ein Hehl daraus gemacht, dass er von der Wirtschaftspolitik der Regierung Dilma Rousseff wenig hält. Dennoch hielt sich der 61-jährige CEO und Teilhaber der größten Privatbank Brasiliens, der Itau Unibanco, bisher mit öffentlicher Kritik an der Präsidentin zurück. Mehrfach hat die Präsidentin den privaten Banken wie Itau Unibanco vorgeworfen, Wucherzinsen zu erheben, und deswegen die staatlichen Banken wo irgend möglich unterstützt. Doch während die staatlichen Banken kriseln, feiern die privaten Geldhäuser Rekorde: Itau Unibancos Gewinnmarge betrug im letzten Quartal 22 Prozent. Das Institut ist an der Börse doppelt so viel wert wie die Deutsche Bank. Setubal könnte also in aller Ruhe seine Erfolge genießen und sich möglichst unauffällig verhalten; in der Hoffnung, im Gegenzug politisch in Ruhe gelassen zu werden.

Der Banker hat sich aber für das Gegenteil entschieden. Vergangene Woche etwa trat er vor Studenten der Wirtschaftsfakultät der Universität São Paulos auf: Die Präsidentin sei weder in der Lage noch bereit, die notwendigen Reformen anzugehen, um die Wirtschaft aus der Krise zu steuern, wetterte er in der vollbesetzen Aula. Die Regierung sei „orientierungslos“. Nur Neuwahlen könnten den Abstieg der brasilianischen Wirtschaft ins Chaos beenden. Doch ob es dazu komme – das wage er gar nicht vorherzusagen: „Derzeit ist politisch alles möglich, aber nichts wahrscheinlich.“

Und Stimmen wie die Setubals wurden in den vergangenen Tagen viele laut, in der größten Volkswirtschaft Südamerikas. Dabei hatte das Land eigentlich ganz andere Pläne: Als Gastgeber der Olympischen Spiele wollte es im Sommer die Welt beeindrucken, das politische, ökonomische und gesellschaftliche Musterland eines ganzen Kontinents geben. Stattdessen verschärft sich nahezu täglich eine Korruptionsaffäre unter der politischen und wirtschaftlichen Elite. Es begann damit, dass ein riesiges Schmiergeldsystem beim Ölkonzern Petrobras aufflog. Offensichtlich initiiert unter der Ägide von Rousseffs Vorgänger und Förderer Luis Inácio Lula da Silva. Längst ist auch die Präsidentin in den Mittelpunkt gerückt. Nicht nur, weil sie zuletzt Vorgänger Lula zum Super-Minister ernannte, um ihn vor dem Zugriff der Justiz zu schützen. Vor zwei Wochen demonstrierten vier Millionen Brasilianer für ein Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin. 68 Prozent der Brasilianer wären für ein solches Verfahren. Im Abgeordnetenhaus wurde nun eine Kommission berufen, die darüber abstimmen wird, ob dieser Schritt gegen Rousseff eingeleitet werden soll. Das alles schadet der durch die niedrigen Rohstoffpreise ohnehin schon geschädigten Wirtschaft. Und das zu einer Zeit, in der ausgerechnet Nachbar Argentinien unter dem neu gewählten Präsidenten Mauricio Macri zum neuen Musterschüler der Weltwirtschaft avanciert und dem Standort mächtig Konkurrenz macht. Wie also will Brasilien sich aus dem Skandalstrudel befreien?

Falsche Vorbilder

Lawrence Pih kennt Lula noch gut aus seiner Zeit als Bürgerschreck. Der Unternehmer war vor 25 Jahren einer der ersten, die den Linken Lula öffentlich unterstützten. Der in Shanghai geborene Pih kam achtjährig nach Brasilien. Er sympathisierte mit dem ehemaligen Hungerflüchtling, Schuhputzer und Dreher Lula, der sich als Gewerkschafter und Arbeiterführer in der Politik hocharbeitete – während Pih in der gleichen Zeit aus der kleinen Spedition seines Vaters das führende Getreidemühlenimperium Brasiliens aufbaute. Der Ferrari-Fan Pih, der jeden Morgen um 4.30 Uhr in seinem Büro in São Paulo den Arbeitstag beginnt, ist jedoch enttäuscht von Lulas Politik: „Die großen Reformen, mit denen Brasilien wettbewerbsfähig sein könnte – die hat es unter Lula nicht gegeben“, sagt Pih, mit 73 nur drei Jahre älter als Lula. „Lula hat sich mit kleinen Veränderungen zufriedengegeben.“

Die brasilianischen Linken würden China als Vorbild sehen, weil dort Millionen aus der Armut geholt worden seien. „Doch dort gibt es keine Demokratie, keine Streiks. Die Chinesen arbeiten 14 Stunden, während uns Brasilianern eigentlich acht Stunden schon zu viel sind“, sieht Pih den Unterschied zwischen Brasilien und China. Niemand wolle derzeit investieren: Es gäbe keine Nachfrage, keine Rechtssicherheit. Keine Prognosen seien möglich zu Politik, Zinsen oder dem Real. „Manchmal habe ich das Gefühl, ich habe immer noch nicht verstanden, wie in Brasilien Politik gemacht wird.“

Wie es weitergehen soll, ist nicht nur Pih schleierhaft. Die Risikoanalysten von Eurasia Group haben die Wahrscheinlichkeit eines Abgangs Rousseffs vor Ende ihrer Amtszeit 2019 auf 75 Prozent erhöht. „Im Mai könnte es so weit sein“, schätzt Eurasia-Analyst Christopher Garman. Die Finanzinvestoren setzen bereits auf den Abgang der Präsidentin: Um 22 Prozent ist die Börse in drei Wochen gestiegen. Doch das sind Spekulanten. Die denken kurzfristig.

Die Unternehmer sorgen sich um die längerfristige Perspektive Brasiliens: Sie fürchten, dass es dem genauso charismatischen wie gerissenen Lula als Kabinettschef gelingen könnte, die Stimmen abtrünniger Abgeordneter zu gewinnen – mit Hinterzimmer-Abkommen, mit Etatzusagen. Bargeld hat in Brasilien schon so manche Regierungskrise gelöst.

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Jetzt verhärten sich die Fronten in der Politik: Vergangene Woche hatte Lula die Gewerkschaften, Arbeiterpartei und linke Sozialbewegungen zu Protesten aufgerufen, denen eine halbe Million Brasilianer gefolgt ist. Das sind zwar deutlich weniger als die Demonstranten der Opposition. Doch es zeigt, dass Lula politisch nicht isoliert ist. Bei den brasilianischen Linken ist der Expräsident wegen seiner erfolgreichen Armutsbekämpfung weiterhin populär – trotz der Korruptionsaffäre und der schwachen Regierung unter Rousseff, die Lula als Nachfolgerin aufgebaut hat.

Gelingt es Lula und Rousseff, an der Macht zu bleiben, dann würde die wirtschaftliche Agonie Brasiliens noch bis Ende 2018 anhalten, fürchten die Unternehmer. „Wir bewegen uns auf eine Depression zu“, sagt etwa Pedro Passos, Milliardär und Co-Gründer des Kosmetikkonzerns Natura. Noch zweieinhalb Jahre politische Stagnation – für Brasilien wäre das verheerend.

Denn die Arbeiterpartei von Rousseff und Lula verlangt als Gegenleistung für Linientreue, dass die Regierung nun die verbliebenen Devisenreserven einsetzt, um Jobprogramme zu finanzieren und Kredite in den Wohnungsbau zu kanalisieren. Die hohen Dollar-Vorräte sind das Einzige, was Brasiliens Wirtschaft derzeit unter den Investoren noch eine gewisse Glaubwürdigkeit verschafft. Würde die Regierung die Devisen jetzt für Arbeitsbeschaffungsprogramme verpulvern, wäre Brasilien auf den Finanzmärkten schnell isoliert.

Das Risiko sei groß, dass die Regierung die Ausgaben jetzt noch steigern wird, statt zu sparen, fürchtet die Ratingagentur Moody’s, die gerade als Letzte der drei Agenturen Brasilien-Anleihen auf Ramschniveau abgestuft hat.

Was plant Lula?

Dabei wäre jetzt dringend genau das Gegenteil notwendig, um Vertrauen zu schaffen: Der Haushalt muss ausgeglichen werden, denn er rutscht immer tiefer in die roten Zahlen, weil die Regierung mehr ausgibt, als sie einnimmt. Die Investoren leihen Brasilien nur noch gegen Hochzinsen Geld. Die Gefahr einer Verschuldungskrise innerhalb Brasiliens wächst. Brasiliens Wirtschaft liegt bereits jetzt am Boden, weil niemand mehr investiert oder konsumiert. Die Shoppingcenter sind gähnend leer, private Schulen klagen jetzt zu Beginn des Schuljahres über Abmeldungen, auch gut geführte Unternehmen entlassen Mitarbeiter. Besonders schlecht geht es den Branchen, die von der Regierung durch Protektion und Kreditsubventionen künstlich gehätschelt wurden. Beispiel Automobilbranche. Bis vor Kurzem war Brasilien noch der viertgrößte Automarkt der Welt. Jetzt nähert sich die Produktion wieder dem Stand von vor einer Dekade. 2015 sind die Fertigungszahlen um ein Viertel eingebrochen. Im ersten Quartal dieses Jahres sind sie erneut um ein Drittel geschrumpft. Die Kapazitäten etwa der Lkw-Bauer sind nur noch zu 20 Prozent ausgelastet.

Das große Inkognito ist jetzt Lula. Wie zu seinen Hochzeiten geriert er sich wieder als der politische Underdog, der das Establishment herausfordert. Der von den Reichen gehasst und kleingehalten wird. Die ihm nicht verzeihen würden, dass er den Armen einen Platz an der Sonne verschaffen wollte. Lula preist sich als der Präsident, der Brasilien so gut regiert habe wie kein anderer. „Besser als alle die Herren Doktoren vor mir.“ Der aber jetzt kampfbereit sei. „Wie eine Giftschlange, der man den Schwanz abgeschlagen hat, aber nicht den Kopf.“

Lula hofft, dass seinen Unterstützern nicht aufstößt, dass unter ihm die Banken so gut verdient haben wie nie zuvor, dass die Baukonzerne Brasiliens ihm Millionen für seine Reden im Ausland bezahlt haben, die nie jemand gehört hat.

Ermittlungen gegen Hunderte Verdächtige

Und der eigentliche Skandal? Zu wenig berechenbar sind die Ermittlungen in der Korruptionsaffäre. Richter Sergio Moro aus Südbrasilien hatte vor genau zwei Jahren den Skandal durch seine hartnäckigen Ermittlungen ins Rollen gebracht. Gegen Hunderte von Verdächtigten wird ermittelt. 67 Personen wurden bisher zu insgesamt fast 1000 Jahren Gefängnis verurteilt. Darunter zwei Dutzend Manager und Eigentümer der größten Unternehmen Brasiliens. Mindestens genauso viele Verdächtigte schmoren seit Monaten in Untersuchungshaft. Das hat es noch nie gegeben in Brasilien, wo die Elite immer darauf zählen konnte, straffrei auszugehen.

120 Millionen Dollar haben die Verurteilten bereits von ihren Konten aus der Schweiz abgezogen und nach Brasilien zurückschicken lassen, im Tausch gegen Strafminderung. Jetzt hat die Schweizer Bundesanwaltschaft angekündigt, dass sie weitere 1000 verdächtige Konten mit insgesamt 900 Millionen Dollar gesperrt habe. Brasilien rechnet jeden Tag mit neuen spektakulären Enthüllungen der Ermittler. Das betrifft nicht nur die Arbeiterpartei und ihre Koalitionspartner. Auch in der Opposition fürchten einige, durch Aussagen von geständigen Kronzeugen noch in die Affäre verwickelt zu werden.

Wie versumpft das ganze Establishment Brasilias ist, zeigt sich etwa in der Figur Eduardo Cunha, dem Präsidenten des Abgeordnetenhauses. Der Evangelist und Radioprediger treibt das Amtsenthebungsverfahren maßgeblich voran. Doch auch gegen ihn wird ermittelt. Von Cunha sind Kopien von Konten mit Millionen in der Schweiz aufgetaucht – mit Passfoto und seiner Unterschrift. Die Medien rechnen damit, dass der Oberste Gerichtshof Cunha jeden Augenblick festnehmen lassen könnte. Doch Cunha wäre nach der Verfassung hinter dem bisher unbescholtenen Vizepräsidenten Michel Temer der dritte potenzielle Nachfolgekandidat Rousseffs.

Unternehmer Pih ist trotz des Korruptionssumpfes weiterhin hoffnungsvoll für Brasilien – „mittelfristig“ sagt er, wie die meisten Unternehmer derzeit, wenn sie Prognosen zu Brasilien wagen sollen. Er hat gerade sein Mühlenimperium an den US-Händler Bunge verkauft. Was er denn nun mache mit dem Geld, will man wissen. „In Bildung, Gesundheit oder Infrastruktur investieren“, sagt Pih. Die Brasilianer würden älter werden, und auch in der Infrastruktur gebe es dringenden Nachholbedarf. Doch er habe keine Eile mit den Investitionen, sagt er. „Die brasilianischen Aktiva sind billig“, sagt Pih. „Doch sie werden sich in der nächsten Zeit noch deutlich mehr entwerten.“

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