Syrien Die Kurden und ihr Traum von Autonomie

Syriens Kurden haben ein bescheideneres Ziel als ihre Nachbarn auf der irakischen Seite. Sie wollen Autonomie und keine völlige Unabhängigkeit. Und wie es aussieht, kommen sie auf ihrem Weg voran.

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In der mehrheitlich kurdischen Region Rojava im Norden Syriens übt die herrschende Kurdenpartei PYD schon eine De-Facto-Selbstverwaltung aus. Quelle: AP

Beirut Der syrische Kurde Adnan Hassan sieht Grund zur Hoffnung für sich und sein Volk. Vor zwei Jahren hatten Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat seine Heimatstadt Kobane an Syriens Grenze zur Türkei beinahe ausradiert. Aber jetzt, da der IS daraus vertrieben ist und insgesamt immer mehr Rückschläge erleidet, öffnet eine neue Universität in der Stadt. Hassan wird dort als Professor für kurdische Sprache und Literatur arbeiten. Es ist insgesamt die erste Universität in den selbstverwalteten kurdischen Gebiet und die erste in Syrien, die Kurdisch lehrt.

Die Zukunft seines Volkes – Syriens größter ethnischer Minderheit – könnte nicht besser aussehen, meint Hassan. „Wir leben einen Traum, und wir warten, dass dieser Traum Wirklichkeit wird.“

Was Hassan sich für sich und sein Volk wünscht, ist bescheidener als das, was die irakischen Kurden auf der anderen Seite der Grenze umtreibt. Sind diese mit einem Unabhängigkeitsreferendum voll auf Konfrontationskurs zu ihren Nachbarn und der Regierung in Bagdad gegangen, wollen die syrischen Kurden eine Anerkennung der weitgehenden Autonomie, die sie im syrischen Bürgerkrieg erreicht haben. Sie treten für ein föderales System im Land ein und glauben, dass sich ihre Ausgangsposition verbessert hat, sie jetzt vielleicht mehr internationale und heimische Unterstützung finden – und sich als ein Mitspieler etabliert haben, an dem Damaskus bei jedweder Lösung des Konflikts nicht vorbeikommt.

Und: Die syrischen Kurden haben Land. Von den USA im Kampf gegen den IS unterstützt, kontrollieren kurdische Kräfte fast 25 Prozent Syriens. Sie halten nicht nur den größten Teil des Gebietes an der nördlichen Grenze zur Türkei, sondern haben ihren Machtbereich auch auf nichtkurdisches, von den Arabern dominiertes Territorium ausgedehnt.

In der mehrheitlich kurdischen Region Rojava im Norden Syriens übt die herrschende Kurdenpartei PYD schon eine De-Facto-Selbstverwaltung aus. Im September wurden neue Ortsräte bestimmt, und Anfang 2018 ist die Wahl eines ersten Regionalparlaments vorgesehen, das Kurden, Araber, Assyrer und Turkmenen repräsentieren soll.

Stets betonen kurdische Führer dabei, dass ihre Vision ein Syrien ist, das Einheit bewahrt – aber mit beträchtlicher Autonomie für verschiedene Regionen. Haben zwar syrische Kurden das Unabhängigkeitsreferendum ihrer Nachbarn auf der anderen Seite der Grenze jubelnd gefeiert, heißt das nicht, dass man ihnen nacheifern will. „In Rojava haben wir ein föderales Projekt. In (dem irakischen) Kurdistan ist es der lang ersehnte Staat. Die beiden ergänzen sich, indem sie das kurdische Streben nach einem Leben in Würde realisieren“, formuliert es Hassan.

Schon jetzt ist es eine bemerkenswerte Wende. Vor dem Bürgerkrieg machten die syrischen Kurden etwa zehn Prozent der damals 23 Millionen Einwohner des mehrheitlich arabischen Landes aus, aber wurden von der Führung in Damaskus seit langem unterdrückt. Jetzt deutete die Regierung von Präsident Baschar al-Assad erstmals an, dass sie zu Gesprächen bereit sein könnte. So stellte Außenminister Walid al-Muallim kürzlich fest, dass die syrischen Kurden „eine Art von Selbstverwaltung“ innerhalb Syriens haben wollten, im Gegensatz zum Streben der irakischen Kurden nach völliger Unabhängigkeit. „Das ist etwas Verhandelbares und kann diskutiert werden“, sagte er. Wenn die Kämpfe mit dem IS abgeschlossen seien, „können wir uns mit unseren kurdischen Söhnen zusammensetzen und eine Formel für die Zukunft finden.“


Die Türkei reagiert wütend


Das heißt nicht, dass die Regierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereit wäre, Macht zu teilen. Die jüngste Serie von Siegen auf dem Schlachtfeld hat sie eher bestärkt, und sie wird weiter von Russland und dem Iran unterstützt. Aber ihre Position ist nicht sicher, und angesichts einer ansonsten zersplitterten und islamistisch dominierten Opposition bieten sich die Kurden unbestreitbar als Gesprächspartner an.

Aber sie könnten massive Probleme mit der Türkei haben. Diese hat auch wütend auf das Referendum der irakischen Kurden reagiert, denn sie befürchtet, dass deren Vorgehen etwas Unabhängigkeitsbewegungen innerhalb ihrer eigenen kurdischen Minderheit anheizen könnte. Ankara betrachtet die syrische Kurdenpartei PYD als verlängerten Arm der in der Türkei als Terrororganisation verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK und ist entschlossen, eine kurdische Autonomie in der Nachbarschaft zu unterbinden.

So besetzten türkische Truppen im vergangenen Jahr ein Stück Land in Syrien, um die Entstehung eines zusammenhängenden großen Kurdengebietes an der Grenze zu verhindern. Und kürzlich kündigte die Türkei eine Operation in der von Al-Kaida-nahen Kämpfern kontrollierten Provinz Idlib an – wohl auch deshalb, um einer kurdischen Expansion dort Einhalt zu gebieten.

Auch interne Spaltungen innerhalb der kurdischen Gemeinschaften bringen Herausforderungen. Die herrschende Partei der kurdischen Zone im Irak kultiviert seit langem Beziehungen zu Ankara. Die von Land umgebene Region ist bei ihrem Zugang zur Außenwelt auf die Türkei angewiesen. Als die PYD zu Anfang des Bürgerkrieges ihre Selbstverwaltung aufzubauen begann, schlossen Iraks Kurden ihre Grenze zu Rojava. Dass die türkische Opposition gegen das Unabhängigkeitsreferendum die Spaltung mildert, ist kaum zu erwarten. Die irakischen Kurden dürften wohl alles vermeiden, um Ankara noch mehr zu erzürnen.

Trotz all dieser Herausforderungen ist in Rojava ein verbreitetes Vertrauen in die Zukunft spürbar. Zerstörte Städte wie Kobane werden mit Hilfe von Einnahmen aus ehemals vom IS besetzen Ölfeldern wiederaufgebaut. Und der 29-jährige Hassan zählt die Tage, bis die Rojava-Universität im November öffnet.

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