Syrien-Experte Günter Meyer „Amerika ist verantwortlich für diese Katastrophe“

Der Krieg in Syrien wird noch schlimmer werden, ist sich Nahost-Experte Günter Meyer sicher. Warum aus seiner Sicht Präsident Baschar al-Assad im Amt bleiben muss und eine Flugverbotszone wohl nicht helfen würde.

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Krieg in Syrien: Eingeschlossene Menschen in Aleppo. Quelle: dpa Picture-Alliance

Der Krieg in Syrien hat eine neue Stufe der Eskalation erreicht. Russen und Syrer bombardieren die Stadt Aleppo vehement. Was ist passiert?
Es gab zwei Eskalationsstufen. Die erste haben wir vor zwei Wochen erlebt als die Vereinigten Staaten syrische Regierungstruppen angegriffen haben. Die US-Regierung spricht von einem Versehen. Das ist unglaubwürdig. Die USA kennen das Gebiet, in dem der Angriff stattfand, in und auswendig. Das kann kein Versehen gewesen sein.

Sondern?
Die amerikanische Regierung ist gespalten. Präsident Obama wollte Syrien stabilisieren und eine Verhandlungslösung erreichen. Teil des Plans war es, dass Amerikaner und Russen ein gemeinsames Kommandozentrum einrichten, um gegen den Islamischen Staat und die Nusra-Front, dem syrischen Ableger von Al Qaida, zu kämpfen. Das Pentagon will aber nicht mit den Russen zusammenarbeiten und keine Aufklärungsergebnisse mit ihnen austauschen. Daher halte ich es für wahrscheinlich, dass der Angriff der Amerikaner vom Pentagon forciert wurde.

Kurze Zeit später wurde ein Hilfskonvoi der Vereinten Nationen angriffen.
Die zweite Eskalationsstufe. Washington macht Russland für das Kriegsverbrechen verantwortlich. Aber es fehlen Beweise. Und es ergibt auch keinen Sinn, denn Damaskus und Moskau profitieren nicht von dem Zwischenfall – weder politisch noch militärisch. Die einzigen, die profitieren, sind die Rebellen. Es deutet alles darauf hin, dass die Aufständischen den Angriff allein mit dem Ziel ausgeführt haben, Assad die Schuld an diesem Kriegsverbrechen und damit am Scheitern der Waffenruhe zu geben. Und das ist ihnen gelungen, wie die Reaktionen in den meisten westlichen Medien zeigen.

Zur Person

Seit letzter Woche bombardieren Russen und Syrer nun die Rebellen in Aleppo. Erleben wir dort gerade einen Genozid?
Jedenfalls einen extrem brutalen Krieg. Das Regime geht ohne jede Rücksicht gegen die Rebellen vor und tötet dabei auch die Zivilisten. Die Rebellen verschanzen sich wiederum in Wohngebieten und nutzen die Zivilisten als Schutzschild. Beide Seiten agieren extrem grausam.

Die USA unterstützen die Rebellen militärisch und mit Waffen. Kann Washington nicht zumindest auf sie einwirken?
Früher gab es noch moderate Rebellen, die sind aber größtenteils Geschichte. Die stärkste militärische Macht in der Rebellen-Fraktion ist jetzt die Nusra-Front. Die meisten Erfolge, die die Aufständischen erzielen, gehen auf deren Konto. Wie gesagt: Das ist im Prinzip Al Qaida, also Hardcore-Islamisten, auf die niemand einwirken kann.

Amerikaner und Nusra-Front kämpfen auf derselben Seite?
Washington bestreitet das natürlich. De facto tun sie es aber. Ein Kommandeur der Nusra-Front erklärte sogar, dass Washington sie direkt mit modernsten Panzerabwehrwaffen und Mehrfachraketenwerfern beliefert.

Die Akteure im Syrien-Konflikt

Die Vereinigten Staaten sollen ihren Feind, Al Qaida, mit Waffen beliefern? Warum sollten Sie das tun?
Obama hat nur noch schlechte Möglichkeiten, zwischen denen er wählen kann. Er will sein Gesicht nicht verlieren und Syrien nicht Russland überlassen. Das wäre eine massive Niederlage für Obama. Daher unterstützt er die, die gegen Assad sind – selbst Islamisten wie die Nusra-Front.

Die Idee einer Flugverbotszone wird wieder diskutiert. Was würde das bringen?
Diese Debatte ist absurd. Das Assad-Regime und die Rebellen sind militärisch beide sehr gut ausgerüstet. Aber nur Assad und die Russen können Kampfflugzeuge einsetzen und damit die Rebellen zurückdrängen. Das ist ihr großer militärischer Vorteil. Es ist unvorstellbar, dass die Russen diesen Vorteil einfach aufgeben. Die Amerikaner müssten also syrische und russische Maschinen abschießen, um die Flugverbotszone durchzusetzen. Dann würden die USA und Russland in Syrien gegeneinander Krieg führen.

Warum Hillary Clinton den Krieg wohl auch nicht beenden kann

Halten Sie es für möglich, dass Russland sich aus dem Krieg in Syrien zurückzieht?
Warum sollten sie? Vor einem Jahr war das Assad-Regime trotz schiitischer Unterstützung aus dem Iran und Libanon fast am Ende. Dann ist Russland in den Krieg eingetreten und bestimmt seitdem das Geschehen. Das möchte Präsident Putin nicht wieder aufgebeben.

Wer sind hier eigentlich die Guten und wer die Bösen?
Das Assad-Regime geht mit größter Brutalität gegen die „Terroristen“ vor und nimmt dabei keinerlei Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Und die Rebellen sind nicht weniger brutal. Das Problem ist zudem, dass wir es mit Stellvertreterkriegen zu tun haben. Die Russen kämpfen mit und für Assad. Die Amerikaner wollen Assad um jeden Preis aus dem Amt entfernen. Diese Interessenlagen sind so fundamental verschieden, dass kein Kompromiss möglich erscheint. Das gleiche gilt für die sunnitischen Regime in Saudi-Arabien und Katar sowie für Israel, die in Syrien mit jeweils spezifischen nationalen Interessen Stellvertreterkriege gegen die Schiiten im Iran und Libanon führen. Gleichzeitig bekämpft Erdogan die syrischen Kurden, um deren Unabhängigkeit zu verhindern.

Präsident Obama würde sich doch aber lächerlich machen, wenn er plötzlich bereit wäre, Assad als Präsidenten zu akzeptieren.
Assad ist schlimm, keine Frage. Aber was passiert, wenn er gestürzt wird? Das Machtvakuum werden die stärksten oppositionellen Gruppen füllen. Und das sind die Nusra-Front und ihre Verbündeten. In ihrem Herrschaftsbereich werden sie alle religiösen Minderheiten ebenso wie Sunniten, die mit dem Regime zusammengearbeitet haben, entweder vertreiben oder töten, darunter auch Christen, die immerhin zwölf Prozent der Bevölkerung stellen.

Sie halten es also für besser Assad zu stützen?
Zumindest in einer Übergangsphase bis zu Neuwahlen. Die Amerikaner müssten alles dafür tun, damit die Islamisten nicht an die Macht kommen. Doch daran haben sie gegenwärtig kein Interesse, weil sie ihnen im Kampf gegen Assad nützlich sind. Das ist – mit Verlaub – eine perverse Art der Kriegsführung.

Wie kann man den Friedensprozess wieder aufleben lassen?
Die Interessen in diesen Stellvertreterkriegen sind zu verschieden. Ich sehe keine Chance für eine friedliche Lösung. Im Gegenteil! Es wird noch viel blutiger, wenn die Presseberichte wahr werden, wonach die US-Regierung erwägt, jetzt auch noch modernste Luftabwehrraketen an die Rebellen zu liefern.

Hat der Westen aus Ihrer Sicht versagt?
Viel schlimmer. Aus meiner Sicht sind die USA die Hauptverantwortlichen für diese humanitäre Katastrophe, die wir im Moment erleben. Seit der US-geführten Invasion im Irak 2003 haben die Regierenden in Washington eine falsche Entscheidung nach der nächsten getroffen und damit die gesamte Region ins Chaos gestürzt.

Angenommen Hillary Clinton wird die nächste US-Präsidentin. Kann sie diesen Krieg beenden?
Clinton hat sich ganz klar für einen harten Kurs gegen Assad ausgesprochen. Sie steckt also in der gleichen Falle wie Obama. Nur wenn Assad zumindest vorerst im Amt bleibt, kann dieser Krieg enden. Nur das Regime, in dessen Gebiet etwa zwei Drittel der syrischen Bevölkerung leben, kann das Land stabilisieren und vor der Machtübernahme durch ultra-konservative Islamisten bewahren. Solange Amerika das nicht akzeptiert, geht der Krieg weiter. Und wenn Clinton auf eine noch stärkere Konfrontation mit Assad setzt, wird dieser Krieg noch brutaler. 

Dieser Krieg könnte also über Jahre einfach weitergehen.
Manche Beobachter vergleichen die Lage bereits mit dem Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert. Ein Ende des Krieges und ein Ende des Mordens sind jedenfalls in den nächsten Jahren nicht absehbar.

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