Der Krieg in Syrien hat eine neue Stufe der Eskalation erreicht. Russen und Syrer bombardieren die Stadt Aleppo vehement. Was ist passiert?
Es gab zwei Eskalationsstufen. Die erste haben wir vor zwei Wochen erlebt als die Vereinigten Staaten syrische Regierungstruppen angegriffen haben. Die US-Regierung spricht von einem Versehen. Das ist unglaubwürdig. Die USA kennen das Gebiet, in dem der Angriff stattfand, in und auswendig. Das kann kein Versehen gewesen sein.
Sondern?
Die amerikanische Regierung ist gespalten. Präsident Obama wollte Syrien stabilisieren und eine Verhandlungslösung erreichen. Teil des Plans war es, dass Amerikaner und Russen ein gemeinsames Kommandozentrum einrichten, um gegen den Islamischen Staat und die Nusra-Front, dem syrischen Ableger von Al Qaida, zu kämpfen. Das Pentagon will aber nicht mit den Russen zusammenarbeiten und keine Aufklärungsergebnisse mit ihnen austauschen. Daher halte ich es für wahrscheinlich, dass der Angriff der Amerikaner vom Pentagon forciert wurde.
Kurze Zeit später wurde ein Hilfskonvoi der Vereinten Nationen angriffen.
Die zweite Eskalationsstufe. Washington macht Russland für das Kriegsverbrechen verantwortlich. Aber es fehlen Beweise. Und es ergibt auch keinen Sinn, denn Damaskus und Moskau profitieren nicht von dem Zwischenfall – weder politisch noch militärisch. Die einzigen, die profitieren, sind die Rebellen. Es deutet alles darauf hin, dass die Aufständischen den Angriff allein mit dem Ziel ausgeführt haben, Assad die Schuld an diesem Kriegsverbrechen und damit am Scheitern der Waffenruhe zu geben. Und das ist ihnen gelungen, wie die Reaktionen in den meisten westlichen Medien zeigen.
Zur Person
Günter Meyer leitet das Zentrum für Forschung zur Arabischen Welt an der Universität Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte sind die politische Geographie der arabischen Welt sowie die wirtschaftsgeografischen Entwicklungsprobleme in der Region.
Seit letzter Woche bombardieren Russen und Syrer nun die Rebellen in Aleppo. Erleben wir dort gerade einen Genozid?
Jedenfalls einen extrem brutalen Krieg. Das Regime geht ohne jede Rücksicht gegen die Rebellen vor und tötet dabei auch die Zivilisten. Die Rebellen verschanzen sich wiederum in Wohngebieten und nutzen die Zivilisten als Schutzschild. Beide Seiten agieren extrem grausam.
Die USA unterstützen die Rebellen militärisch und mit Waffen. Kann Washington nicht zumindest auf sie einwirken?
Früher gab es noch moderate Rebellen, die sind aber größtenteils Geschichte. Die stärkste militärische Macht in der Rebellen-Fraktion ist jetzt die Nusra-Front. Die meisten Erfolge, die die Aufständischen erzielen, gehen auf deren Konto. Wie gesagt: Das ist im Prinzip Al Qaida, also Hardcore-Islamisten, auf die niemand einwirken kann.
Amerikaner und Nusra-Front kämpfen auf derselben Seite?
Washington bestreitet das natürlich. De facto tun sie es aber. Ein Kommandeur der Nusra-Front erklärte sogar, dass Washington sie direkt mit modernsten Panzerabwehrwaffen und Mehrfachraketenwerfern beliefert.
Die Akteure im Syrien-Konflikt
Anhänger von Präsident Baschar al-Assad kontrollieren weiter die meisten großen Städte wie Damaskus, Homs, Teile Aleppos sowie den Küstenstreifen. Syriens Armee hat im langen Krieg sehr gelitten, konnte aber infolge der russischen Luftunterstützung seit September 2015 wieder Landgewinne verzeichnen. Machthaber Assad lehnt einen Rücktritt ab.
Die Terrormiliz beherrscht im Norden und Osten riesige Gebiete, die allerdings meist nur spärlich besiedelt sind. Durch alliierte Luftschläge und kurdische Milizen mussten die Islamisten im Norden Syriens mehrere Niederlagen einstecken. Unter der Herrschaft der Miliz, die auch im Irak große Gebiete kontrolliert, verbleibt die inoffizielle Hauptstadt Raqqa, die bedeutende Versorgungsstrecke entlang des Euphrat und ein kleiner Grenzübergang zur Türkei. Offiziell lehnen alle lokalen und internationalen Akteure den IS ab.
Sie sind vor allem im Nordwesten und Süden Syriens stark. Ihr Spektrum reicht von moderaten Gruppen, die vom Westen unterstützt werden, bis zu radikalen Islamisten.
Die zu Beginn des Kriegs bedeutende Freie Syrische Armee (FSA) hat stark an Einfluss verloren. Sie kämpft vor allem gegen Diktator Assad.
In der „Islamischen Front“ haben sich islamistische Rebellengruppen zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist der Sturz Assads und die Errichtung eines „Islamischen Staates“ – die gleichnamige Terrormiliz lehnen sie jedoch ab. Sie werden von Saudi-Arabien unterstützt und sind ideologisch mit al-Qaida zu vergleichen. Militärisch untersteht ihr auch die „Dschaisch al-Fatah“, die von der Türkei unterstützt wird. Teilweise kooperieren sie mit der al-Nusra-Front, Ableger des Terrornetzwerks al-Qaida.
Sie ist zersplittert. Das wichtigste Oppositionsbündnis ist die Syrische Nationalkoalition in Istanbul. Diese wird von zahlreichen Staaten als legitim anerkannt, von vielen lokalen Akteuren wie al-Nusra oder der kurdischen PYD jedoch abgelehnt.
In Damaskus sitzen zudem Oppositionsparteien, die vom Regime geduldet werden. Bei einer Konferenz in Riad einigten sich verschiedenen Gruppen auf die Bildung eines Hohen Komitees für Verhandlungen, dem aber einige prominente Vertreter der Opposition nicht angehören.
Kurdische Streitkräfte kontrollieren mittlerweile den größten Teil der Grenze zur Türkei: Sie sind ein wichtiger Partner des Westens im Kampf gegen den IS.
Dabei kämpfen sie teilweise mit Rebellen zusammen, kooperieren aber auch mit dem Regime. Führende Kraft sind die „Volksverteidigungseinheiten“ YPG der Kurden-Partei PYD, inoffizieller Ableger der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK. Diese streben einen eigenen kurdischen Staat an – die Türkei lehnt das vehement ab.
Washington führt den Kampf gegen den IS an der Spitze einer internationalen Koalition. Kampfjets fliegen täglich Angriffe. Beteiligt sind unter anderem Frankreich und Großbritannien. Deutschland stellt sechs Tornados für Aufklärungsflüge über Syrien, ein Flugzeug zur Luftbetankung sowie die Fregatte „Augsburg“, die im Persischen Golf einen Flugzeugträger schützt. Washington unterstützt moderate Regimegegner.
Die Türkei setzt sich für den Sturz Assads ein und unterstützt seit langem Rebellengruppen wie die islamistische Dschaisch al-Fatah. Neben der Sicherung ihrer 900 Kilometer langen Grenze ist die Türkei seit August 2016 auch mit Bodentruppen in Syrien vertreten. Ziel ist neben der Vergeltung für Terroranschläge des IS auch, ein geeintes Kurdengebiet im Norden Syriens zu verhindern.
Der Abschuss eines russischen Flugzeugs über türkischem Luftraum im November 2015 führte zu Spannungen zwischen Russland und der Türkei.
Seit September 2015 fliegt auch Russlands Luftwaffe Angriffe in Syrien. Moskau ist einer der wichtigsten Unterstützer des syrischen Regimes: Rebellenorganisationen werden pauschal als „Terroristen“ bezeichnet und aus der Luft bekämpft. Der Kampf gegen islamistische Rebellen soll auch ein Zeichen an Separatisten im eigenen Land senden.
Geostrategisch möchte Russland seinen Zugriff auf den Mittelmeerhafen Tartus nicht verlieren.
Teheran ist der treueste Unterstützer des Assad-Regimes, auch aus konfessionellen Gründen. Iraner kämpfen an der Seite der syrischen Soldaten. Die von Teheran finanzierte Schiitenmiliz Hisbollah ist ebenfalls in Syrien im Einsatz. Sie fürchten die Unterdrückung der schiitischen Minderheit im Falle eines Sieges sunnitischer Rebellen, aber auch den Verlust von regionalem Einfluss.
Riad ist ein wichtiger Unterstützer vornehmlich islamistischer Rebellen. Sie fordern, dass Assad abtritt. Saudi-Arabien geht es auch darum, den iranischen Einfluss zurückzudrängen. Der Iran ist der saudische Erzrivale im Nahen Osten.
Trotz religiöser Ähnlichkeiten zwischen IS und dem saudischen Wahabismus engagiert sich Saudi-Arabien im Kampf gegen den IS.
Die Vereinigten Staaten sollen ihren Feind, Al Qaida, mit Waffen beliefern? Warum sollten Sie das tun?
Obama hat nur noch schlechte Möglichkeiten, zwischen denen er wählen kann. Er will sein Gesicht nicht verlieren und Syrien nicht Russland überlassen. Das wäre eine massive Niederlage für Obama. Daher unterstützt er die, die gegen Assad sind – selbst Islamisten wie die Nusra-Front.
Die Idee einer Flugverbotszone wird wieder diskutiert. Was würde das bringen?
Diese Debatte ist absurd. Das Assad-Regime und die Rebellen sind militärisch beide sehr gut ausgerüstet. Aber nur Assad und die Russen können Kampfflugzeuge einsetzen und damit die Rebellen zurückdrängen. Das ist ihr großer militärischer Vorteil. Es ist unvorstellbar, dass die Russen diesen Vorteil einfach aufgeben. Die Amerikaner müssten also syrische und russische Maschinen abschießen, um die Flugverbotszone durchzusetzen. Dann würden die USA und Russland in Syrien gegeneinander Krieg führen.
Warum Hillary Clinton den Krieg wohl auch nicht beenden kann
Halten Sie es für möglich, dass Russland sich aus dem Krieg in Syrien zurückzieht?
Warum sollten sie? Vor einem Jahr war das Assad-Regime trotz schiitischer Unterstützung aus dem Iran und Libanon fast am Ende. Dann ist Russland in den Krieg eingetreten und bestimmt seitdem das Geschehen. Das möchte Präsident Putin nicht wieder aufgebeben.
Wer sind hier eigentlich die Guten und wer die Bösen?
Das Assad-Regime geht mit größter Brutalität gegen die „Terroristen“ vor und nimmt dabei keinerlei Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Und die Rebellen sind nicht weniger brutal. Das Problem ist zudem, dass wir es mit Stellvertreterkriegen zu tun haben. Die Russen kämpfen mit und für Assad. Die Amerikaner wollen Assad um jeden Preis aus dem Amt entfernen. Diese Interessenlagen sind so fundamental verschieden, dass kein Kompromiss möglich erscheint. Das gleiche gilt für die sunnitischen Regime in Saudi-Arabien und Katar sowie für Israel, die in Syrien mit jeweils spezifischen nationalen Interessen Stellvertreterkriege gegen die Schiiten im Iran und Libanon führen. Gleichzeitig bekämpft Erdogan die syrischen Kurden, um deren Unabhängigkeit zu verhindern.
Präsident Obama würde sich doch aber lächerlich machen, wenn er plötzlich bereit wäre, Assad als Präsidenten zu akzeptieren.
Assad ist schlimm, keine Frage. Aber was passiert, wenn er gestürzt wird? Das Machtvakuum werden die stärksten oppositionellen Gruppen füllen. Und das sind die Nusra-Front und ihre Verbündeten. In ihrem Herrschaftsbereich werden sie alle religiösen Minderheiten ebenso wie Sunniten, die mit dem Regime zusammengearbeitet haben, entweder vertreiben oder töten, darunter auch Christen, die immerhin zwölf Prozent der Bevölkerung stellen.
Sie halten es also für besser Assad zu stützen?
Zumindest in einer Übergangsphase bis zu Neuwahlen. Die Amerikaner müssten alles dafür tun, damit die Islamisten nicht an die Macht kommen. Doch daran haben sie gegenwärtig kein Interesse, weil sie ihnen im Kampf gegen Assad nützlich sind. Das ist – mit Verlaub – eine perverse Art der Kriegsführung.
Wie kann man den Friedensprozess wieder aufleben lassen?
Die Interessen in diesen Stellvertreterkriegen sind zu verschieden. Ich sehe keine Chance für eine friedliche Lösung. Im Gegenteil! Es wird noch viel blutiger, wenn die Presseberichte wahr werden, wonach die US-Regierung erwägt, jetzt auch noch modernste Luftabwehrraketen an die Rebellen zu liefern.
Hat der Westen aus Ihrer Sicht versagt?
Viel schlimmer. Aus meiner Sicht sind die USA die Hauptverantwortlichen für diese humanitäre Katastrophe, die wir im Moment erleben. Seit der US-geführten Invasion im Irak 2003 haben die Regierenden in Washington eine falsche Entscheidung nach der nächsten getroffen und damit die gesamte Region ins Chaos gestürzt.
Angenommen Hillary Clinton wird die nächste US-Präsidentin. Kann sie diesen Krieg beenden?
Clinton hat sich ganz klar für einen harten Kurs gegen Assad ausgesprochen. Sie steckt also in der gleichen Falle wie Obama. Nur wenn Assad zumindest vorerst im Amt bleibt, kann dieser Krieg enden. Nur das Regime, in dessen Gebiet etwa zwei Drittel der syrischen Bevölkerung leben, kann das Land stabilisieren und vor der Machtübernahme durch ultra-konservative Islamisten bewahren. Solange Amerika das nicht akzeptiert, geht der Krieg weiter. Und wenn Clinton auf eine noch stärkere Konfrontation mit Assad setzt, wird dieser Krieg noch brutaler.
Dieser Krieg könnte also über Jahre einfach weitergehen.
Manche Beobachter vergleichen die Lage bereits mit dem Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert. Ein Ende des Krieges und ein Ende des Mordens sind jedenfalls in den nächsten Jahren nicht absehbar.