Tauchsieder

Na bravo, China!?

Seite 2/2

China droht, sich in vielen Sackgassen zu verlieren

Auch tritt China unter Xi Jinping zunehmend machthungrig und raumgreifend auf. Es lässt seine militärischen und ökonomischen Muskeln spielen, testet seine physischen und politischen Grenzen aus, im Südchinesischen Meer, im Himalaya und in Hongkong. China besetzt Inseln, rückt in neutrale Pufferzonen vor, annulliert völkerrechtliche Verträge – und macht sich kultureller Genozide im eigenen Land schuldig. Es drängt afrikanische und asiatische Staaten in die Schuldknechtschaft (Sri Lanka) und drangsaliert Demokratien, die sich seinem Willen widersetzen (Australien, Norwegen, Litauen), es schafft internationale Parallelstrukturen, die den „Washington Consensus“ unterlaufen, eröffnet entgegen aller Versprechen Militärstützpunkte in Dschibuti – und gibt schon „kein Versprechen“ mehr ab, bei der „Wiedervereinigung“ mit Taiwan „auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten“ (Xi).

Und doch steht Xis China drei Monate nach Beginn des russischen Vernichtungsfeldzugs in der Ukraine zum ersten Mal seit mehr als vier Jahrzehnten wieder wie ein Scheinriese aus – wie ein Land, das turturgleich schrumpft, je näher man ihm kommt; daran können alle außenpolitischen Muskelspiele und Stolztümeleien, alle Selbstkongratulationsrituale und alles Harmoniegesäusel nichts ändern: China droht in den nächsten Dekade gleichsam von der Seidenstraße abzukommen – und sich in vielen Sackgassen zu verlieren.

Da ist erstens die „Seidenstraße“ selbst, die unabhängig vom Ausgang des Krieges in der Ukraine keine „Brücke“ mehr nach Europa schlagen wird. Russland fällt als Transitland vorerst aus; der Umweg über Kasachstan, das Kaspische Meer, Aserbaidschan und Georgien nach Izmit (Türkei) und von dort weiter über Istanbul nach Triest und Duisburg, ist sicher möglich. Aber der Traum von einem reibungslosen Eurasienhandel ist vorerst ausgeträumt – und mit ihm der Traum von einem lagerneutralen Europa und einer Alternative zu den US-beherrschten Weltmeeren. Hinzu kommt, dass die Freundschaft zwischen Russland und China ihre Grenzen hat, weil sie in ihrer Politik der „Einflusssphären“ (etwa mit Blick auf Kasachstan) überkreuz liegen.

Da ist zweitens, damit zusammenhängend, das Thema Taiwan: Die geschlossene Sanktionspolitik des Westens dürfte Xi vor Augen geführt haben, dass eine baldige „Wiedervereinigung“ vielleicht doch keine so gute Idee ist. Der Prozess der wirtschaftlichen Entkopplung zwischen China und „dem Westen“ wäre zwar deutlich komplizierter und langfristiger als im Falle Russlands, aber er würde (auf Druck der USA) ziemlich sicher stattfinden - und China müsste seine Idee eines lagerneutralen Europa abermals begraben. Die Kosten eines Sanktionswettlaufs wären (für beide Seiten) prohibitiv hoch, aber für Chinas Kader mutmaßlich tödlich, weil ihre Macht auf dem Versprechen von Stabilität und Wohlstandszuwachs ruht – und weil sich China im Falle eines Überfalls auf Taiwan der Welt nicht mehr als „tianxia"-Macht und nicht-interventionistische Nation empfehlen könnte: Sein Selbstbild als postkoloniale Brudernation wäre kompromittiert.

Da ist drittens, damit zusammenhängend, Chinas überraschende Technologie-Schwäche: Die Fähigkeit zur Produktion moderner Chips liegt exklusiv in den Händen der USA und Südkoreas. Und die Fähigkeit zur Produktion avancierter Impfstoffe offenbar auch. Das kratzt nicht nur am Selbstbild. Sondern das wirft im gut informierten Teil der Bevölkerung ganz sicher auch Fragen auf: Warum treibt China den Handelskrieg mit den USA auf die Spitze? Warum sucht Xi nicht den Ausgleich mit Joe Biden? Warum importiert China nicht einfach wirksame Impfstoffe, um die Pandemie in den Griff zu bekommen? Anti-US-Chauvinismus schlägt Gesundheitsvorsorge? Warum riskiert China mit seiner Null-Covid-Politik den Zusammenbruch der Wirtschaft? Oder kommt die Pandemie Xi am Ende sogar gelegen zwecks Verfeinerung seines orwellschen Kontrollregimes?

Da ist viertens, damit zusammenhängend, die schleichende Entkopplung der Volkswirtschaften – zunächst initiiert und forciert von China selbst, das in Reaktion auf den Handelskonflikt mit den USA seinen Binnenkonsum stärken und seine Export-Abhängigkeit reduzieren wollte. Aber in den nächsten zwei, drei Jahren dürfte sich die Entkopplung dramatisch beschleunigen. Ausländische Unternehmen klagen über politische Gängeleien und endemische Benachteiligungen gegenüber einheimischen Konkurrenten, über wachende Kader in den Niederlassungen und erzwungenen Know-How-Transfer. Viele Firmen holen Teile der Produktion zurück nach Europa, bauen neue Fabriken in anderen Ländern Asiens, erschließen sich neue Märkte. Die Coronakrise hat die Vulnerabilität der Lieferketten offengelegt. Die Lockdowns in Shanghai und Peking erschweren es Personalern, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für China zu gewinnen: Das Land ist nicht mehr „sexy“; man kommt ja aus Europa kaum noch rein.

Und da ist fünftens, damit zusammenhängend, der zunehmend kritische Blick auf China – unter Managern und Mitarbeitern - aber auch unter Kunden und Investoren. Bisher hat die Finanzbranche vor allem auf das „E“ unter den Nachhaltigkeitsfaktoren geblickt: E für Environment, prima Klima, sauber Umwelt: Dorthin sollte das Geld fließen. Das wird sich ändern. Die angloamerikanisch dominierte Geldwelt wird nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine ziemlich sicher verstärkt das „G“ in den Blick nehmen - und nach der „Governance“ von Unternehmen, aber auch Ländern fragen. Das vornehmlich in Dollar und Euro faktorierte „Impact“- und „Purpose“-Kapital ist eine Weltmacht für sich - und das  verheißt nichts Gutes für ein Land, das ausländische Firmen überwacht, seine eigenen Unternehmen vor Konkurrenz schützt - oder sie alle der Willkür staatlicher Regulierung aussetzt, um sie politischen Interessen zu unterwerfen.

Kurzum: Es steht in den nächsten zwei, drei Jahren nicht nur viel auf dem Spiel für Russland – sondern auch für China. Die Demokratien des Westens sind mächtig herausgefordert, haben mit der Krise ihrer liberalen Gesellschaften und der liberalen Weltordnung zu kämpfen. Die beiden größten Autokratien der Welt dagegen sind der exakte Ausdruck dieser Krisen. Vielleicht besinnt sich Xi? Vielleicht kann er immer noch Putin überzeugen, dass ein „Eiserner Vorhang“ in Europa weder im Interesse Moskaus noch Pekings liegt? Vielleicht dämpft er im Licht der riesigen Risiken für China doch noch den Chauvinismus im Land, revidiert den Abkopplungseifer und die Konfrontationslust?

„Wir stehen für offene und transparente Freihandelsabkommen“, hat Xi vor fünf Jahren beim Weltwirtschaftsforum in Davos gesagt, und: „Niemand kann als Gewinner aus einem Handelskrieg hervorgehen.“ Der Applaus war ihm sicher: Gegen Donald Trump ist leicht klatschen. Heute schließt Xi sein Land gegen den verhassten Westen ab, treibt den Handelskrieg womöglich auf die Spitze – und riskiert, dass er sich am Ende nur noch ganz allein applaudieren kann.

Lesen Sie auch: Die drei großen Fehler des Xi Jinping

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%