„Eine Million Coronatote“ höhnte die stellvertretende Außenministerin Chinas, Hua Chunying, am 29. November 2022 auf Twitter, allein im Jahr 2021 – das sei „der Preis der ‚Freiheit` in den USA“. Und weil die Diplomatin sich gerade so schön in Fahrt däumelte, um von den brutalen Corona-Repressionsmaßnahmen des Großen Vorsitzenden Xi Jinping abzulenken, erwähnte sie gleich auch noch die hohe Mordrate und das Drogenproblem in den USA – und mahnte kess einen Regimewechsel in Washington an: „Das amerikanische Volk verdient etwas Besseres.“
Es war der Höhepunkt der Coronaproteste in China. Das Volk begehrte auf gegen die lächerlich rigorose Zero-Covid-Politik Pekings und gegen das zwanghafte Abriegeln von Städten, Vierteln, Wohnblöcken, gegen die Quarantänediktate der Kommunistischen Partei und die Kasernenknechtschaft in rettungslos überfüllten Behelfskrankenhäusern, gewiss auch gegen die Weigerung der Kontrollwahnkader, ihr Volk mit (westlichen) Impfstoffen zu versorgen, die Bevölkerung zu immunisieren – sie zu schützen statt zu schinden.
Es war ein Nervenaufstand nach drei Jahren der digitalgestützten Überwachung, Bespitzelung, Observation. Eine Burnout-Revolte gegen die organisierte Freiheitsberaubung eines Staates, der den Entfesselungswillen seiner Menschen dann mit eiserner Hand beendete – im Dienste der edelsten Motive, versteht sich: „Was wir wollen“, twitterte Hua Chunying nach vielen Verhaftungen (auch eines BBC-Reporters) und der regierungsamtlichen Bekräftigung des strikten Anti-Corona-Kurses: „Das Leben unserer Menschen schützen, ihnen ein besseres Leben ermöglichen.“
Nun, wenige Wochen später ist Schluss mit Krankheitsschutz – und ein „besseres Leben“ in China nurmehr denen vorbehalten, die ihre Coronaerkrankung überleben. Die Regierung hat sich für eine radikale Revision ihrer bisherigen Gesundheitspolitik entschieden, das Virus von der Leine gelassen und einen großen Teil der Bevölkerung schutzlos Covid ausgeliefert – Generalsekretär Xi will es neuerdings so, und weil Xi es so will, muss es gut sein: Infektionsschutz war gestern, salutiert Hua am 28. Dezember auf Twitter, es gehe jetzt um die „Prävention schwerer Krankheitsverläufe“ und die „wissenschaftsbasierte, präzise und effektive“ Optimierung der Corona-Maßnahmen.
So geht das heute wieder in China: Der Große Vorsitzende geruht den Hebel plötzlich umzulegen – und 1,4 Milliarden Mentaluniformierte haben gehorsamst die Folgen zu tragen, koste es, was es wolle. Der Preis der Unfreiheit: Heraus aus dem Lockdown-Wahnsinn, hinein in den Massentod.
Und das alles unter dem Doppelbanner eines pervertierten Utilitarismus und feindseligen Nationalstolzes. Erst wurden die Chinesen im Namen eines höchsten Gutes (ihr nacktes Leben) systematisch ihrer individuellen Freiheiten beraubt. Jetzt wird das vormals höchste Gut zu einem nachgeordneten Wert degradiert, dem größten Glück und letzten Zweck überhaupt geopfert: der nationalen Größe Chinas, mithin der Machtmanifestation der Kader.
Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Wahrscheinlich sind sie zugleich defensiver und offensiver Natur. Einerseits dürfte Xi die Proteste gelesen haben als plausiblen Aufstand einer ansonsten apolitisch-regierungstreuen „bürgerlichen Mittelschicht“ gegen das zentrale Regierungsversprechen der KPCh, die meisten Menschen gut zu regieren: Es musste ihm daher daran gelegen sein, eine Politisierung der Erschöpfungsmeuterei, eine verallgemeinerte Infragestellung der KPCh als selbstanspruchsvoller Exzellenz-Dienstleister für das Volk im Keim zu ersticken.
Lesen Sie auch: Na bravo, China!?
Andererseits meint Xi offenbar auch, dass sein (!) Land die selbstverordnete Corona-Lähmung nach drei langen Jahren in einem „Großen Sprung nach vorn“ überwinden und sich erneut entfesseln muss. Es geht ihm darum, dass China 2023 wieder als weltpolitischer Athlet in Erscheinung treten, seine Muskeln spielen lassen kann – und es schadet der Ertüchtigung des Nationalkörpers gewiss nicht, wenn er sich im Zuge seiner schnellen Corona-Durchseuchung ein bisschen verjüngt.
Aber das ist doch blanker Zynismus? Gewiss. Aber noch lange nicht alles. China ist bekanntlich das Land, von dem aus das Virus seinen weltweiten Siegeszug antrat: Kein chinesischer Export war bisher so erfolgreich wie SARS-CoV2. China ist bekanntlich das Land, das der Welt nach dem Ausbruch der Pandemie lange Zeit Informationen vorenthielt, die wichtig gewesen wären, um sich gegen das Virus zu wappnen; viele Menschenleben hätten womöglich gerettet werden können. Und natürlich ist China bekanntlich auch das Land, das bis zuletzt die weltweit strengsten Einreise- und Quarantänevorschriften exekutierte – und das sich jetzt zum Opfer „politischer Manipulationen“ stilisiert, ja: seine „Diskriminierung“ bejammert, weil einige Länder China-Reisenden die Vorlage eines Coronatests abverlangen.
Das ist absurd. Aber leider nicht lächerlich. Denn der plötzliche Schwenk in der Coronapolitik verdeutlicht einmal mehr, dass China an einvernehmlichen Antworten auf globale Fragen und tragfähigen Lösungen zugunsten einer „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ (Xi Jinping) nur solange interessiert ist, wie sie seinen Nationalinteressen dienlich, ja: unterworfen sind. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordert von China „schnellere, regelmäßige und verlässliche Daten über Krankenhauseinweisungen und Todesfälle sowie eine umfassendere Sequenzierung von Viren“? China kümmert’s nicht. Und behauptet: „Wir haben offene, reibungslose Kommunikationskanäle und stehen in engem Kontakt mit der WHO.“ Na dann ist ja alles gut?
Nichts ist gut. Denn auch die Intransparenz über das Ausmaß des Infektionsgeschehens in China ist skandalös. Fast alle Länder haben sich in den vergangenen Jahren bemüht, sich zu vernetzen und ihr Wissen zu teilen, neue Varianten zu identifizieren und frühzeitig zu melden. Und die Menschen weltweit haben buchstäblich mitgefiebert, als in Bergamo, New York oder Delhi die Krankenhausbetten knapp wurden. Allein China scheint sich seiner Coronatoten zu schämen und die Verbreitung der Krankheit als Ausweis politischer Schwäche zu deuten, ist jedenfalls peinlich bemüht, das wahre Ausmaß der Pandemiegeschehens vor den Augen der Weltöffentlichkeit zu verheimlichen.
Fast schon beängstigend ist dabei inzwischen das Ausmaß der Medienkontrolle in China: Fast alles, was (noch) nach Deutschland dringt, sind Mutmaßungen, Spekulationen und ein paar außer Landes geschmuggelte Smartphone-Bilder eines überfüllten Krankenhausflurs in Peking oder einer Warteschlange vor einem Krematorium in Schanghai. Was sich in diesen Tagen in den rund 100 (!) Millionenstädten des Landes, schon gar in den ärmeren Provinzen und auf dem Land abspielt, wo besonders viele Menschen ungeimpft sind; mit wie vielen „Bergamos“ und „New Yorks“ China zu kämpfen hat; wie viele Tote Omikron in welchen Bevölkerungsgruppen fordert; welche Dramen sich etwa in den Provinzhospitälern Yunnans und Sichuans, Gansus und Ningxias abspielen – die Welt erfährt darüber so gut wie nichts und soll es auch nicht erfahren.
Stattdessen spinnen sich die Kader in diesen Tagen mal wieder besonders wohlig und gern in die Suggestion ein, der Westen sei dem bevölkerungsreichsten Land der Welt vor allem feindlich gesinnt und verwehre ihm mit altkolonialen Überlegenheitsgesten den Platz, der ihm angeblich gebührt.
Auch dies ein Hinweis: Stimmt es, dass eine Regierung innenpolitisch immer dann unter besonders hohem Druck steht, wenn sie sich veranlasst sieht, außenpolitisch Dampf abzulassen, muss es um die Coronalage in China derzeit ziemlich dramatisch bestellt sein: „Dieselben Leute, die China beschuldigt haben, den Menschen mit seinen Corona-Maßnahmen Freiheit und Menschenrechte zu verweigern, bezeichnen China nun als Bedrohung, obwohl es seine Politik gelockert hat“, schreibt die stellvertretende Außenministerin Hua Chunying auf Twitter, und: „Vielleicht geht es ihnen nicht um Covid, sondern darum, wie sie das Covid-Thema manipulieren können, um China in Schach zu halten.“ Ihnen? Ach, dürfte Hua damit bloß ihre Kader und den Großen Vorsitzenden Xi meinen. Wie Recht sie hätte! Wie viel weiter wäre die Welt!
Lesen Sie auch: Auf Null-Covid folgt in China ein Infektions-Tsunami