Tauchsieder
Der Kartentrickser zieht die Aufmerksamkeit an sich. Quelle: Getty Images

Die verlorene Moral der Wirtschaft

Affenversuche der Autoindustrie, Milliarden-Boni bei der Deutschen Bank, Unterwerfungsgesten der Dax-Chefs in Davos - über das Anstandsversagen der deutschen Wirtschaftseliten.

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Vor genau 50 Jahren hat der amerikanische Ökonom und Präsidenten-Berater Albert Carr (1902 - 1971) ein Buch und einen Aufsatz veröffentlicht, mit denen er der Welt noch heute in guter Erinnerung ist: Das Buch heißt „Business as a game“ - und der Aufsatz spitzt die zentrale These des Autors in einer rhetorischen Frage zu: „Is Businnes Bluffing Ethical?“ Carr vergleicht darin die Welt der Wirtschaft mit einem Pokerspiel: Es gibt Regeln für alle Beteiligten, es herrscht Wettbewerb und Gewinnstreben - und alle Beteiligten tricksen und lügen, um sich einen Vorteil zu verschaffen.

Für Carr kein Problem: Weil alle Beteiligten wissen, wie das Spiel läuft und sich dabei an die Regeln halten, herrscht Chancengleichheit. Und weil das Spiel ist, wie es ist, dürfe man an Akteure des Wirtschaftsgeschehens nicht die gleichen moralischen Maßstäbe anlegen wie an seine Partner, Kinder und Freunde. Tricksen, täuschen, lügen - was das Privatleben ruiniert, ist im konkurrenz- und gewinngetriebenen Business-Alltag unbedingt akzeptiert und plausibel.

Carrs Schilderung der herrschenden Wirtschaftsmoral hat zwei Stärken. Sie geht erstens von Menschen aus, wie sie sind und nicht wie sie sein sollen - und stellt damit gängige moralphilosophische Erwägungen auf den Kopf. Man muss sich Carr zufolge etwa nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob eine Handlung deshalb sittlich ist, weil sie in guter Absicht erfolgt (Kant) oder aber gute Ergebnisse zeitigt (Utilitaristen). Auch erübrigen sich Überlegungen, ob es sich bei Wirtschaftsakteuren um tugendhafte Menschen handelt (Aristoteles) - und ob man deren Tugendhaftigkeit im Wege gesellschaftlicher Selbstverständigungsdebatten (Habermas, Apel), der Pädagogik, des politischen Appells oder auch der sozialen Ächtung aufhelfen kann.

Im Gegenteil. Carrs Pokermoral neutralisiert alle ethischen Normen, Werte und Sollensforderungen, die von außen an „die Wirtschaft“ und ihre Protagonisten herangetragen werden, indem sie von einer allgemein akzeptierten Ethik innerhalb des Funktionsbereichs Wirtschaft ausgeht.

Daran schließt sich die zweite Stärke von Carrs Position an: Sie räumt mit der in Deutschland geradezu verheiligten Vorstellung auf, die Soziale Marktwirtschaft sei der ordnungspolitischen Weisheit letzter Schluss. Zentral für die Vorstellung des Ordoliberalimus sind institutionelle und rechtliche Rahmenbedingungen, die es einer wettbewerblich organisierten Wirtschaft ermöglichen, im Namen des Wohlstands, des Fortschritts und der Innovation segensreichen Wirkungen zu entfalten. Zur Veranschaulichung benutzen die Gelehrten gern ein Bild aus dem Fußball: Nur unter der Bedingung allseits akzeptierter Spielregeln (Gesetze) kann ein reibungsloser Spielfluss (Warenverkehr) garantiert werden, in dem der Bessere sich gegen den Schlechteren durchsetzt (Wettbewerb) - zur Zufriedenheit aller Zuschauer (Konsumenten). Freilich, was in diesem makellos schönen Selbstbild der Ordoliberalen fehlt, das sind die versteckten Fouls, die Täuschungsabsichten der Spieler, die Beeinflussungen des Schiedsrichters, kurz: ist das, was man das Spielverständnis nennen könnte.

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