Der Berliner Soziologe Philipp Staab hat diesen Versuch nun unternommen – mit großem Erfolg. Seine Studie dürfte die Diskussion hierzulande prägen, weil er die Tiefenstruktur des „Digitalen Kapitalismus“ herauspräpariert, seine Matrix analytisch durchdringt und historisch korreliert, weil er seine Thesen beispielhaft belegt, auf Fakten stützt – und auf knappe, einleuchtende Begriffe bringt. Mehr noch: Mit Staabs Buch liegt der Ansatz zu einer kritischen Theorie des Digitalkapitalismus vor, eine erste Röntgenaufnahme, ein kleines Grundlagenwerk, auf das sich Anhänger wie Kritiker produktiv beziehen werden – denn hinter dieses Buch führt kein Weg zurück.
Worum geht es Staab? Nun, die zentrale These seines Buches lautet: „Die Leitunternehmen des kommerziellen Internets sind weniger Produzenten, die auf Märkten agieren, als Märkte, auf denen Produzenten agieren.“ Das klingt sehr griffig, aber zunächst einmal nicht umwerfend. Hat man jedoch erst einmal verstanden, dass es sich bei den Gafa-Unternehmen (Google, Apple, Facebook, Amazon) und ihren chinesischen Pendants (Staab zählt Alibaba und Tencent dazu) nicht um Plattformbetreiber, also neutrale Intermediäre zwischen Produzenten und Konsumenten, sondern um „Marktbesitzer“ handelt, deren Profitmodell auf Macht und Kontrolle basiert, auf der Beherrschung eines Marktes und der Kapitalisierung unknapper Güter, auf der Rationalisierung des Konsums und der Erwirtschaftung ökonomischer Renten, die mit dem Marktprivileg verbunden sind (Provisionen) – dann sind die Konturen dessen, was den Digital- vom Industriekapitalismus unterscheidet, gleich viel schärfer sichtbar. Dann gerät in den Blick, worum es hier eigentlich geht: um das Ende des (neo-)liberalen Kapitalismus der Neuzeit, in dem der Staat bloß einen Ordnungsrahmen setzte und als Garant eines Wettbewerbs zwischen freien Unternehmern auf neutralen Märkten möglichst wenig in Erscheinung trat. Und um das Heraufziehen einer neuen Zeit, um ein „Akkumulationsregime in the making“, so Staab, – um das Entstehen „proprietärer Märkte“, auf denen „Metaplattformen“ die „Regeln des Wettbewerbs, dessen Forum sie bilden, selbst bestimmen“.
Um zu veranschaulichen, was Staab damit meint, bezieht er sich zunächst auf fünf Typen digitaler Plattformen: Werbeplattformen (Google, Facebook), Cloud-Plattformen (Amazon Web Services), industrielle Plattformen (Siemens“ Mindsphere), Produktplattformen (Spotify, Netflix) und leane Plattformen (Uber, Airbnb) – nur um die Sortierung nach Geschäftsmodellen und Produktfeldern sogleich wieder aufzugeben, weil sie „die Vermachtung des kommerziellen Internets durch seine Leitunternehmen“ ignoriere. Diese agierten als Meta-Plattformen und technische Ökosysteme – als Märkte, in die hinein sie andere Anbieter ihren Regeln und Rahmensetzungen gemäß integrierten (oder auch nicht): „kein Uber, kein Spotify, kein Instagram, kein Zalando ohne Android oder IOS“. Staab zufolge sind die Betriebssysteme und App-Stores von Google und Apple Paradebeispiele für „proprietäre Märkte“, weil sie das kommerzielle Internet zugunsten der Leitunternehmen hierarchisch strukturieren und andere Plattformen als Produzenten in vierfacher Hinsicht beherrschen: mit der Kontrolle von Information (exklusive Aneignung von Marktdaten), mit der Kontrolle des Marktzugangs (Ausschluss von Konkurrenz), mit der Kontrolle der Preise (etwa durch das Lancieren eigener Angebote) und mit der Kontrolle des Leistungsangebots (Diktat der Marktbedingungen, Kriterien der Kundenbewertung etc.).
Auch führt Staab uns eindrucksvoll vor Augen, dass die Gafa-Unternehmen dabei eine Strategie der „Expansion und Schließung“ verfolgen, dass sie sich durch Akquisitionen „über die Zeit immer ähnlicher geworden sind“ (smarte Lautsprecher, Browser, Betriebssysteme) – und dass es sich heute, bei den milliardenschweren Investitionen in „Cloud, KI, Fintech“ nicht einfach um den Erwerb neuer Güter und Dienstleistungen handelt, die an das jeweilige Ökosystem angeschlossen würden, „sondern um entscheidende Infrastrukturelemente“, die die „sukzessive Schließung der proprietären Märkte“ zum Ziel haben. Jack Ma, der Chef von Alibaba, habe den Anspruch der Metaplattformen auf das Eigentum am Markt“ bereits 2016 auf den Punkt gebracht: „Wir sind heute schon die größte virtuelle Ökonomie der Welt“, wird Ma zitiert: „Wie können wir die virtuelle Ökonomie groß genug machen für alle junge Menschen mit einem Mobiltelefon, einem PC?“
Ein besonders beeindruckendes Kapitel hat Staab der Entstehung dieser „proprietären Märkte“ entwickelt. Er unterscheidet dabei idealtypisch zwischen dem „digitalisierten Kapitalismus“ der Achtzigerjahre (Anreicherung des analogen Kapitalismus mit Informations- und Kommunikationstechnologie; Steigerung der Prozesseffizienz) und dem „digitalen Kapitalismus“ der Gafa-Konzerne – und schildert den Übergang als Prozess von „Filiationen zwischen Finanz- und Internetökonomie“, zu Deutsch: als historischen Parallelaufschwung zweier Branchen, die seit der säkularen Wachstumskrise in den Siebzigerjahren nicht nur wechselseitig voneinander profitierten und koevolutionär wuchsen, sondern die sich auch strukturell ähneln: Beide Sphären handeln mit unknappen Gütern, sind systemisch relevant, hochgradig vermachtet – und profitieren von der Kommodifizierung minimaler Zeit- und Informationsvorsprünge (etwa Hochfrequenzhandel und die algorithmische Berechnung von Kundenpräferenzen). Am Beispiel der japanischen Softbank, des Gigafonds Vision und seiner Investitionen führt er uns plastisch das Ergebnis, eine „systematische Geopolitik des Kapitals“ vor Augen, die im postliberalen Kapitalismus des vermachteten Geldes und der Gafa-Konzerne globale Wachstumsmärkte sortiert – „nicht mehr durch konkurrierende Konzerne, sondern durch gebündelte Strategien solventer Investoren“.
Am Ende diagnostiziert Staab einen Purzelbaum zurück in den Merkantilismus. Doch während im klassischen Merkantilismus die Kontrolle des Außenhandels (die Ausbeutung der Peripherie) dem Aufbau einer kompetitiven Marktökonomie im Innern diente, über der der Staat wachte, müsse der Staat heute „als der große Verlierer“ betrachtet werden. Staab diagnostiziert statt dessen die Entstehung eines „privatisierten Merkantilismus“, der proprietäre Märkte mit den Konturen einer Rentiersgesellschaft kombiniert“ und „Wertschöpfungsdividenden von Einkommen zu Vermögen, von Produzenten und ihren Beschäftigten zu Marktbesitzern und ihren Eignern“ verschiebt. Dass Staab die Implikationen dieser Entwicklung auf Arbeitsmärkte und mit Blick auf die „Radikalisierung sozialer Ungleichheit“ am Rande mitbehandelt und dabei mehr behauptet als begründet, ist ein bisschen schade – schmälert den Ertrag seiner delikaten Analyse des „Digitalen Kapitalismus“ aber keinen Deut.