Tauchsieder

Die verlorene Moral der Wirtschaft

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Drei Gründe der ethischen Orientierungslosigkeit

Der größte Profiteur dieser ethischen Orientierungslosigkeit, die in diesen Wochen vor allem SPD-Chef Martin Schulz auszeichnet, ist ironischerweise „die Wirtschaft“. Das hat im Wesentlichen drei Gründe:

1. Die Globalisierung arbeitet am Abbau von allgemein gültigen Rahmenbedingen - und untergräbt damit eine Wirtschaftsethik, die ihr Moralverständnis auf die Systemimperative der Marktwirtschaft, auf Wettbewerb und Gewinnstreben, gründet. Der Ordoliberalismus ist von gemeinsamen, sanktionsbewehrten Spielregeln abhängig - und von einem gemeinsamen Spielverständnis, das auf geteilten Werten beruht. Für die Nationalökonomien des 20. Jahrhunderts war das eine gute Grundlage. Im global vernetzten 21. Jahrhundert fehlt eine Welt-Rahmenordung, die Fairness garantiert - und vor allem durchsetzt.

2. Die meisten global agierenden Unternehmen haben diesen Mangel erkannt - und moralisch aufgerüstet. Doch ihre Corporate Social Responsibility stellt natürlich nicht die Grundlagen des Wirtschaftens als solche in Frage, etwa das unternehmerische Engagement in Diktaturen, den ökonomischen Leistungsbegriff oder die Gerechtigkeit der Güterverteilung. Statt dessen begegnet uns Moral in dieser Perspektive als ISO-geprüftes Set von politikunabhängigen Mindest- und Verhaltensstandards, in denen sich Konzerne etwa allgemein auf die Wahrung von Menschen- und Arbeitnehmerrechten verpflichten. Dabei geht es Unternehmen nicht um eine Reflektion ihrer Verantwortung, so der Kasseler Wirtschaftsethiker Michael Aßländer, sondern vor allem darum, „ein spezifisches Verantwortungsinstrumentarium zu implementieren“, das heißt: um moralische Fragen im Wege ihrer Organisation zu beherrschen. (Eine für Konzerne unangenehme Nebenfolge der moralischen Machtexpansion ist, dass sie - nicht die Politik - für die Einhaltung von Menschenrechten in bestimmten Ländern verantwortlich gemacht werden).

3. Nicht nur Konzerne, sondern auch Konsumenten arbeiten am Abbau der Moral: Wenn unzählige Banken- und Dieselskandale nicht dazu führen, dass etwa der Deutschen Bank und Volkswagen die Kunden in Scharen davonlaufen, haben wir es nicht mit einem Eliten-, sondern mit einem eklatanten Verbraucherversagen zu tun. Es darf nicht verwundern, dass Manager daraus ihre eigenen, rationalen Schlüsse ziehen: Sie rechnen nicht nur mit dem nächsten Skandal, sondern auch damit, dass er schnell vorüberziehen wird. Anders gesagt: Volkswagen und Deutsche Bank stellen Kosten-Nutzen-Kalkulationen auf der Basis eines „gemeinsamen Spielverständnisses“ an, das auf dem Signal der Kunden beruht: Ganz gleich, was ihr anstellt - ich ziehe keine Konsequenzen aus Eurem Fehlverhalten.

Was also tun? Aus moralphilosophischer Hinsicht liegt eine Antwort auf der Hand: mehr Spielregeln, weniger Selbstverpflichtungen, mehr rechtliche Standards, weniger unternehmerische Sondermoral. Die Marktwirtschaft benötigt nicht viel moralische Anreicherung, sondern rechtliche und institutionelle Absicherung. Unser Wirtschaftssystem ist nicht „an der Wurzel ungerecht“ (Papst Franziskus), sondern von ihrem Grundsatz her eine glänzend geölte Zivilisationsmaschine, die Milliarden Menschen verheißt, ihrer Armut zu entkommen. Religiöser Fanatismus (Afghanistan, Iran), Korruption (in vielen Ländern Afrikas), politische Zentralsteuerung (Peking, Moskau, Singapur...) und Eigentumskonzentration (westliche Staats-Finanzmarkt-Komplexe) sind ungerecht – nicht „die Wirtschaft“, von der schon Max Weber meinte, sie sei die „friedliche Ausübung von Verfügungsgewalt“.

Das Geld, das sich ein Bauunternehmer bei der Volksbank leiht, bedarf keiner ethischen Fundierung; es reicht, dass er Maurern eine Beschäftigung bietet und neue Schulen entstehen. Und selbst Wall Street und Bankfurt sind keine Orte der „Tyrannei“, in denen das Gesetz der Gier gilt - aber es braucht Vorschriften, die Geldinstituten zum Beispiel ein Fünftel Eigenkapital für ihre Kreditgeschäfte abverlangen oder den Mindestlohn als „Ordnungstaxe“ durchsetzen. Tatsächlich benötigt der Kapitalismus in Demokratien nur wenige, streng sanktionsbewehrte Prinzipien – Risiko und Haftung gehören zusammen, Kredite haben ihren Preis, Schulden müssen zurückgezahlt werden, Geld- und Machtkartelle gehören zerschlagen, Verbrechen werden verfolgt –, um weitestgehend funktionstüchtig zu sein.

Was es mit Blick auf die globalen Rahmendefizite darüber hinaus braucht, ist eine jederzeit robuste Diskussion über die Nebenfolgen des Wirtschaftens: etwa über asymmetrische Machtverhältnisse im Welthandel, die gemeinsame Bewirtschaftung von Allmendegütern, die Demokratisierung von Daten - oder den ruchlosen Opportunismus des Kapitals in Gestalt von Siemens-Chef Joe Kaeser angesichts des US-Präsidenten. Diese Diskussionen sind schwierig, weil sie an das moralphilosophische Grunddilemma von „Sein“ und „Sollen“ rühren - und weil wir uns das Moralisieren abtrainieren müssen, um zu moralischen Urteilen wieder fähig zu sein.

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