
Ein Kompromiss ist maximal etwas Zweitbestes. Kein Wunder, dass wir ihn so wenig mögen. Für unseren Glauben stehen wir ein. Unsere Überzeugungen vertreten wir felsenfest. Unser Recht auf eigene Meinung ist uns heilig. Zu einem Kompromiss aber erklären wir uns bereit - wenn überhaupt. Er ist nichts, wofür wir leben, sondern auf den wir uns einlassen. Mit Blick auf Freunde, Partner und Familie liebend gern. Mit Blick auf alles andere eher unfreiwillig, widerwillig - weil's nicht anders geht.
Warum fasziniert uns eine "kompromisslose Natur"? Weil sie mit sich im Reinen, mit sich selbst identisch ist. Weil sie "Ihr Ding" durchzieht, wie man sagt. Weil sie Stärke ausstrahlt, Macht und Willenskraft, kurz: Souveränität. Für den politischen Kompromiss bedeutet das, dass er das Potenzial zur Kompromittierung hat. Er kann von Kritikern des Kompromisses als Zeichen der politischen Schwäche ausgelegt werden, als Machteinbuße und Souveränitätsverlust - und als Verrat an hochfliegenden Prinzipien und heiligen Grundüberzeugungen.
Putins Folterwerkzeuge im Sanktionskrieg
Der Kreml droht damit, den Import westlicher Pkw nach Russland einzuschränken. Der russische Markt ist aber schon länger in der Krise. 2013 exportierten deutsche Hersteller 132 000 Fahrzeuge nach Russland - im Jahr davor waren es noch knapp 157 000. Bei Volkswagen liegt der Konzernabsatz in Russland nach zwei Dritteln des Jahres 12 Prozent unter dem Vorjahresniveau. Unabhängig von den Sanktionen sagt ein VW-Insider: „Der Markt fliegt uns ganz schön um die Ohren.“ Die Sanktionen könnten jene Hersteller teils schonen, die in Russland in eigenen Fabriken produzieren. Der Duisburger Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer hält Importverbote deshalb für verkraftbar: „Nahezu alle wichtigen deutschen Autobauer wie VW, Opel-Chevrolet, Ford, BMW, Daimler Nutzfahrzeuge sind mit Werken in Russland vertreten.“ Der Präsident des Branchenverbands VDA, Matthias Wissmann, aber rät zum Blick über den Tellerrand: Das Thema drücke auf die Psychologie der internationalen Märkte.
Macht Moskau ernst und den Luftraum für westliche Airlines über Sibirien dicht, wäre das ein harter Schlag. Genau das hat Russlands Regierungschef Dmitri Medwedew im Sinn: „Wenn westliche Gesellschaften unseren Luftraum meiden müssen, kann das zum Bankrott vieler Fluggesellschaften führen, die schon jetzt ums Überleben kämpfen.“ Beispielsweise müssten die großen europäischen Airlines Air France-KLM, British Airways oder Lufthansa, die über Sibirien nach Asien fliegen, auf längere Routen ausweichen. Das kostet Treibstoff, Besatzungen müssen länger arbeiten. Experten gehen von etwa 10 000 Euro Mehrkosten pro Flug aus. Dies dürfte nicht ohne Folgen auf die Ticketpreise bleiben, von längeren Flugzeiten für die Kunden ganz zu schweigen. Aber: Bisher päppelte Moskau mit den Einnahmen von über 200 Millionen Euro pro Jahr aus den Überflugrechten die Staatsairline Aeroflot auf. Lachender Dritter wären wohl die Chinesen. Sie könnten dank des Sibirien-Kostenvorteils die Europäer im lukrativen Asiengeschäft noch mehr ärgern.
Bei Lebensmitteln machte Putin bereits ernst und verhängte Anfang August einen Importstopp, weil ihm erste EU-Sanktionen nicht schmeckten. Die 28 EU-Staaten, die USA, Australien, Kanada und Norwegen dürfen für ein Jahr Fleisch, Fisch, Milch, Obst und Gemüse nicht mehr einführen. Einzelne Agrarländer wie Griechenland trifft das hart. Für die deutsche Agrarbranche sind die Folgen überschaubar, sagt Bundesagrarminister Christian Schmidt (CSU). Um Verwerfungen im EU-Markt wegen des Überangebots zu verhindern, rief Schmidt die Verbraucher auf, mehr heimisches Obst und Gemüse zu essen: „One apple a day keeps Putin away“ (Ein Apfel am Tag hält Putin fern). Nun kündigt Moskau an, auch Produkte der Textilindustrie auf den Index zu setzen. Details sind aber unklar.
Hier hält Putin die ultimative „Waffe“ in der Hand. Dreht er den Gashahn zu, hätte Europa ein Problem. Grund zur Panik besteht aber nicht. Die Gasspeicher sind randvoll (Deutschland: 91,5 Prozent, EU-weit: 90), die Vorräte dürften zumindest in Deutschland, das seinen Gasbedarf zu mehr als ein Drittel aus Russland deckt, bis zum Frühjahr reichen. Das Baltikum und Finnland sind aber zu 100 Prozent von russischen Gasimporten abhängig, viele südosteuropäische Länder hängen auch am Gazprom-Tropf. Die Bundesregierung geht davon aus, dass Putin liefertreu bleibt, nicht auf die Export-Milliarden verzichten kann. Die knallharte Entscheidung der EU, die russischen Energieriesen Gazprom Neft, Rosneft, Transneft sowie Rüstungsfirmen jetzt vom europäischen Kapitalmarkt abzuschneiden, dürfte Putin aber mächtig reizen. Polen meldet, Gazprom liefere weniger Gas als vereinbart - was der Monopolist von Putins Gnaden bestreitet.
Von welcher Art sind nun die Kompromisse, die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr französischer Amtskollege Francois Hollande in diesen Tagen geschlossen haben, mit Russland, der Ukraine und den so genannten "Separatisten"? Kann sich der russische Staatschef Wladimir Putin wie ein Sieger fühlen? Hat Merkel gute Kompromisse erzielt, schlechte Kompromisse oder faule Kompromisse? Wie hoch ist der Preis, den Europa und die Ukraine um des lieben Friedens willen zahlen sollen? Und wie viel Kapitulation steckt in der Konzession der Ukraine und ihres Präsidenten Petro Poroschenko, die Herrschaft über den Donbass auch nach einem Waffenstillstand den Separatisten zu überlassen?
Es ist bezeichnend, dass es eine lange Tradition des philosophischen Denkens über die Frage des "gerechten Krieges" gibt, aber so gut wie keine Überlegungen zu der Frage eines "gerechtfertigten Friedens". Bezeichnend deshalb, weil die Denker des Abendlandes sich darin einig waren, dass ein "gerechter Krieg" nur im Namen von unbezweifelbaren (das hieß lange Zeit: von Göttern für schlüssig befundenen), also absoluten Gründen geführt werden kann - und weil es im Falle des "gerechtfertigten Friedens" darauf ankäme, den relativen Wert zweier positiver Güter (des Friedens und der Gerechtigkeit) gegeneinander aufzuwiegen.
Über das Buch
Das Buch mit dem Titel Über Kompromisse und faule Kompromisse ist 2011 bei Suhrkamp erschienen und ist für 22,90 € im Handel erhältlich. Das e-Book ist mit 19,99 € etwas günstiger zu bekommen.
Dass es sich bei "Frieden" und "Gerechtigkeit" nicht um synonyme, nicht einmal komplementäre, sondern im Gegenteil: um zwei Begriffe handelt, zwischen denen sich ein großes Spannungsfeld auftut, leuchtet jedem spontan ein, der schon einmal Kleists "Michael Kohlhaas" gelesen, eine Monographie über die französischen Revolution durchgeblättert oder aber in den vergangenen Tagen die "Tagesschau" gesehen hat: Der russische Präsident Wladimir Putin destabilisiert die Ukraine, besetzt die Krim, bestellt Gewalt-Unternehmer in die Donbass-Region, um dort einen Krieg anzuzetteln - und wirft damit auch die beiden Fragen aller Fragen auf: Wie weit sollen wir in den Verhandlungen mit Putin für den Frieden gehen? Und wie groß dürfen die Abstriche sein, die das liberale Europa gegenüber dem Kreml (nicht Russland!) um des Friedens willen an allem macht, was wir für "gerecht" halten: die Einhaltung des Völkerrechts, die Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen, das Selbstbestimmungsrecht des ukrainischen Volkes, die Demokratisierung Europas?
Der israelische Philosoph Avishai Margalit hat sich über die Frage des "gerechtfertigten Friedens" in einem anregenden (leider alles andere als stringenten) Buch* bereits vor vier Jahren aufschlussreiche Gedanken gemacht. Für ihn liegt ein Kompromiss exakt zwischen "Frieden" und "Gerechtigkeit" - und die Beurteilung seiner Qualität darin, welche Abstriche die "passive Seite" beim Thema "Gerechtigkeit" machen kann, um Frieden zu stiften - ohne dass diese Abstriche einer Kapitulation gleichkommen. Margalits Antwort: Die "passive Seite" muss sehr weit gehen. Aber nicht so weit, dass die Gerechtigkeit dabei vollkommen auf der Strecke bleibt. Tut sie es dennoch, handelt es sich um einen "faulen Kompromiss".