Tauchsieder
Wladimir Putin, Michail Gorbatschow Quelle: dpa

Griff nach der Weltgeschichte

Wem gehört Michail Gorbatschow? Wann begann der Zweite Weltkrieg? Braucht es noch sowjetische Denkmäler? Die Geschichtspolitik ist zurück in Europa. Wie weit darf die kulturelle Aneignung der Vergangenheit reichen? 

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Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga hat Geschichte mal als „die geistige Form“ definiert, „in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft ablegt“. Er deutete damit an, was für Historiker selbstverständlich ist: Geschichte ist nicht das, was geschehen ist, sondern eine Darstellung und Ordnung des Geschehenen im Licht der Gegenwart.

Logisch. Wäre Geschichte eine bloße Ereignisfolge, hätte man es in gewisser Weise mit keiner Geschichte zu tun, das ist schon Gottfried Benn bei der Lektüre des „Großen Ploetz“ aufgegangen: Egal, welche Seite man aufschlägt, man findet dort immer dasselbe, bei den Griechen oder den Franken, von Alexander des Großen bis Josef Stalin: „3mal Waffenstillstand, 1 mal Intervention, 2 mal Einverleibung, 3 mal Aufstand, 2 mal Abfall, 2 mal Niederwerfung, 3 mal Erzwingung…“

Zum Handwerk des Historikers gehört es also, Ereignissen eine Form zu geben, sie einzubetten in ihre Zeit, sie dort einzigartig aufscheinen zu lassen. Und zu seinen Schwierigkeiten, den Ereignissen dabei rückwirkend eine Richtung und Konsequenzfolge andichten, ihnen eine vergleichende Bedeutung, einen singulären Sinn beimischen zu müssen: Was sonst sollten Geschichtsschreiber erforschen, festhalten, sortieren, einordnen (und uns in Büchern verkaufen) als das, was die Römer memoratu oder memoria dignum nannten: das zu Erinnernde – das Erinnerungswürdige?

Bleibt die dreifache Frage, was überhaupt erinnerungswürdig ist, was zu je gegebener Zeit als erinnerungswürdig empfunden wird - und was nicht. Denn das memoratu ist natürlich nicht abgedichtet gegenüber der Gegenwart. Im Gegenteil. Es ist porös und fluide, wird laufend interpretiert, variiert und verändert von Werturteilen und konträren Sichtweisen, von neuen Ideen und Empfindsamkeiten, Rückkopplungen und frischen Forschungsergebnissen, kurz: von den Zeitumständen.

Die Zunft der Historiker weiß daher natürlich um die Kontingenz ihrer handwerklichen Erzeugnisse: Jeder noch so versierte Meister legt immer nur eine Erzählung vor, gießt sein Wissen und Können in eine mögliche Form. Aber was ist mit der Politik? Kann man mit Huizinga zwischen „demokratischen Kulturen“ unterscheiden, die Geschichte als offenes Ensemble verschiedener Deutungen verstehen – und „totalitären Kulturen“, die Geschichte zur monolithischen Denkmalgestaltung verzwecken, zur Stilisierung der politischen Gegenwart, zur Rechtfertigung ihrer Untaten – so wie Wladimir Putin es gerade tut?

Nun, ganz so leicht ist die Sache nicht. Die Erinnerung an Michail Gorbatschow hat in der vergangenen Woche gezeigt, dass Geschichte auch in liberalen Gesellschaften noch immer eine „geistige Form“ annimmt, in der sich „nationale Kulturen“ höchst unterschiedlich Rechenschaft über ihre Vergangenheit ablegen. Und die Reparationsforderungen Polens gegenüber Deutschland sowie die Sprengung des „Denkmals für die Befreier von Sowjet-Lettland und Riga von den deutsch-faschistischen Invasoren“ in der lettischen Hauptstadt haben zugleich gezeigt, dass Geschichte auch in Demokratien die Gestalt einer „nationalisierten Geschichtspolitik“ annehmen kann, die den Heutigen nicht nur etwas bedeutet, sondern etwas Bestimmtes bedeuten soll.

Kein Zweifel, die „Zeitenwende“ läutet in Europa auch eine neue Phase der Geschichtspolitik ein: Begräbnisse und Mahnworte, Denkmalstürze und Erinnerungskämpfe deuten auf eine entschiedene Re-Politisierung der Vergangenheit hin und werfen die Frage auf: Wie weit darf die „kulturelle Aneignung“ von Geschichte reichen – ohne mit ihrer  Deutungsoffenheit die Geschichte selbst und unser demokratisches Miteinander in Europa zu beschädigen?

Michail Gorbatschow. Tausende Russen defilierten am Samstag in Moskau am Grab des letzten Staatschefs der Sowjetunion vorbei – vielleicht auch eine stille Demonstration gegen Putin – und für ein anderes, besseres, in Europa verankertes Russland?

Natürlich haben wir Deutschen Gorbatschow unendlich viel zu verdanken. Er hat die Sowjetunion nuklear abgerüstet und mit US-Präsident Ronald Reagan das Ende des Kalten Krieges eingeläutet, er hat im November 1989  seine Panzer und Soldaten in den ostdeutschen Kasernen stehen lassen und unserer Nation im Juli 1990 großzügig die Einheit konzediert. Entsprechend einhellig verbeugte sich das politische Berlin nach seinem Tod: „Gorbatschow hat Weltgeschichte geschrieben“, schrieb etwa Altkanzlerin Angela Merkel, und: „Er hat vorgelebt, wie ein einzelner Staatsmann die Welt zum Guten verändern kann.“

Das stimmt natürlich. Aber es stimmt teils nur auf tragische Weise, teils nicht mal zur Hälfte – und andernorts kein bisschen. Nicht zuletzt, was die Person Gorbatschow selbst anbetrifft. Wenn wir ehrlich wären, verdanken wir nicht Gorbatschow viel, sondern seinem Scheitern alles. Es gehört daher nicht viel Fantasie dazu, um sich vorzustellen, dass er die schulterklopfenden Ehrerweise, weihevollen Dankbezeigungen und feierlichen Freundschaftsbekräftigungen aus Deutschland nach 1990 mit höchst widersprüchlichen Gefühlen – Demut und Schuld, Rührung und Scham – empfangen haben muss.
Der Generalsekretär der KPdSU war in erster Linie kein Treiber von Veränderungen, sondern ein Getriebener des mangelnden Veränderungsvermögens in seinem Land. Er wollte die wirtschaftlich marode Sowjetunion mit Reformen („Perestroika“) vor ihrem Zerfall bewahren – und beschleunigte mit seine Reformen ihren Zerfall. Er wollte einem Sozialismus mit menschlichen Antlitz etablieren – und stellte den Sozialismus als böse Fratze bloß. Er versuchte es aus Einsicht in den politischen Bankrott der Sowjetunion mit Gesten gelebter Brüderlichkeit („glasnost“) – und übersah, dass die Reaktionären in Russland die Messer gegen ihn wetzten.

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Vor allem aber meinte Gorbatschow ein „gemeinsames Haus in Europa“ zu bauen, ohne einen Sinn dafür zu entwickeln, dass die Völker Mittel- und Osteuropas die Sowjetunion seit Stalin als brutale Kerkergemeinschaft empfinden mussten: „Er war ein Gefängnisaufseher, der entschieden hat, dass einige Reformen nötig sind“, so das kalte Urteil des litauischen Präsidenten Gitanas Nauseda, und: Dass Gorbatschow das Auseinanderbrechen der Sowjetunion für seinen größten Fehler gehalten habe, stelle ihn in eine Reihe mit Wladimir Putin.

Tatsächlich gehört auch das zur Bilanz des Friedensnobelpreisträgers: Er billigte als oberster Sowjet Militäreinsätze in Georgien, Litauen und Lettland. Und er war nach dem Annektion der Krim durch Russland 2014 „absolut überzeugt“, dass Putin die Interessen Russlands herausragend „verteidigt“ – nicht zuletzt gegen die NATO und die „große Seuche“ USA.

Vor diesem Hintergrund ist es mindestens merkwürdig, dass die deutsche Spitzenpolitik es auch im siebten Monat der „Zeitenwende“ nicht schafft, das selige Gedenken an „Gorbi“ dreifach zu ergänzen. Erstens durch einen historisch sensiblen Blick auf das Geschichtsempfinden der EU-Partner in Osteuropa. Zweitens durch einen kritischen Blick auf den russischen Irredentismus von Stalin über Breschnew und Gorbatschow bis Putin. Und drittens durch einen selbstkritischen Blick auf das romantisierte Russlandbild der Deutschen nach 1989, das nicht Gorbatschow uns aufgeprägt hat, vielmehr unserer Verniedlichung Gorbatschows zu „Gorbi“ viel verdankt - eine Verniedlichung, die sich als verheerend für unser Land (und seine Reputation in Osteuropa) erwiesen hat.

Übrigens auch hinsichtlich des dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte. Das wiedervereinigte Deutschland hat seinen Aussöhnungswillen mit Blick auf den Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 vor allem Russland bezeigt und seine Erinnerungspolitik entlang der Achse Berlin-Moskau gestaltet - ungeachtet der Tatsache, dass die Ukraine (oder auch Georgien) seit 1991 als freie, souveräne Staaten firmierten, die „Kornkammer Ukraine“ (sowie die „Ölfelder des Kaukasus“) für Hitlers „Unternehmen Barbarossa“ von überragendem Interesse gewesen waren – und dass die Ukraine als Teil der „Bloodlands“ (Timothy Snyder) besonders stark unter dem Vernichtungskrieg der Wehrmacht und der SS gelitten hatte.

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