Tauchsieder

Kann Singapur es besser als wir?

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Ideales Umfeld für ausländische Unternehmen

Es gibt womöglich keinen Ausländer, keinen Besucher der Stadt, dem diese Erfolgsgeschichte nicht mindestens Respekt abnötigt. Peter Meinshausen zum Beispiel, „Regional President Evonik Asia Pacific South“. Wir treffen uns im Tamarind Hill, einem thailändischen Restaurant in einer schwarz-weißen Villa aus dem 19. Jahrhundert, sehr hübsch gelegen im Tropenwald des Labrador Nature Reserve im Süden Singapurs, nicht weit entfernt von der Vergnügungsinsel Sentosa – und das Hühnchen im exzellenten „Green Curry“ spielt so etwas wie die Hauptrolle in der kleinen Geschichte, die Meinshausen gleich erzählen wird. Der Essener Spezialchemiehersteller hat gerade eine halbe Milliarde Euro in Singapur investiert, so viel wie noch nie und nirgends sonst in der Geschichte des Konzerns. Und warum ausgerechnet hier? Meinshausen muss kurz überlegen. Es gibt so viele Gründe. Und alle sprechen für Singapur.

Da ist zunächst einmal der asiatische Markt. Evonik stellt in Singapur Methionin her, einen Ernährungszusatz zur Steigerung der Effizienz in der Fleischproduktion, wenn man es betriebswirtschaftlich ausdrücken will, man kann aber auch sagen: eine Aminosäure, die Bauern dem Futter beimischen, damit ihre Schweine und Hühner früher schlachtreif sind. Mit der neuen Produktionsanlage verdoppelt Evonik seine Produktion in Singapur auf 300.000 Tonnen jährlich, steigert den Anteil des Standorts Singapur an der weltweiten Jahresproduktion auf 40 Prozent. Das also ist Grund Nummer eins: die Nähe zum großen asiatischen Lebensmittelmarkt – zu drei Milliarden Menschen, die gerne Schweine- und Hühnchenfleisch essen: Der Konzern muss hier schneller wachsen als das BIP. Eine Hälfte des Methionins exportiert Evonik von hier nach China, die andere Hälfte in die übrigen Länder Südostasiens.

Grund Nummer zwei: Mit der seit Jahrzehnten konsequent ausgebauten Petrochemie-Insel Jurong bietet Singapur dem Konzern ein ideales Umfeld für die riskante Produktion der Aminosäure. Werksleiter Bo Halsberghe wird es später anhand von Schaubildern ausführlich erklären: Der Lebensmittelzusatz entsteht aus Ammoniak, Methan, Schwefel, Methanol und Propan, dabei entstehen toxische, hochreaktive, instabile Gefahrenstoffe (etwa Acrelein) – aber weil alle Zutaten hier von Partnerfirmen über Leitungen just-in-time in den Produktionsprozess eingespeist werden können, kann Halsberghe die Risiken der Lagerung und eines Chemieunfalls hier bestens minimieren.

Grund Nummer drei: Singapur hat Evonik bei seiner Investition massiv unterstützt, obwohl die Essener den Stadtstaat mit gerade mal 100 neuen Arbeitsplätzen beschenken. Denn Singapur hat mal wieder einen Masterplan – und wer hilft, ihn zu erfüllen, ist immer hochwillkommen. 30 Prozent seiner Nahrung will der Stadtstaat bis 2030 selbst herstellen, mit Fisch- und vertikalen (Hochhaus-)Gemüsefarmen – da passt ein Produzent von Ernährungszusätzen bestens ins Konzept. Auch genießt Evonik in Singapur seit dem Bau seiner ersten Anlage im Jahr 2008 „Pionierstatus“: Der Konzern bekommt Steuererleichterungen eingeräumt und wird mit „manpower grants“ ausgestattet, weil er eine Mindestzahl einheimischer Arbeitskräfte beschäftigt. Das politische Handeln sei hier halt sehr von der Wirtschaft bestimmt, sagt Meinshausen, und er versteht das unbedingt als Lob. Das Umfeld sei freundlich und fordernd zugleich. Umsonst gebe es in Singapur gewiss nichts, aber wenn man das „Matching“ stimme, gingen die Dinge stets schnell und reibungslos voran.

Grund Nummer vier: Singapur garantiert Evonik Rechtssicherheit und den Schutz seines geistigen Eigentums. Peter Meinshausen würde nie sagen, das sei etwa in China anders. Er sagt nur, dass man sich in Singapur unbedingt aufs gesprochene Wort der Regierenden verlassen kann und auf den Willen zur Exzellenz in der Politik, auf hochagile, gut ausgebildete Fachleute in den Behörden – und auf die Aktivität, ja: positive Aggressivität, mit der man hier Pläne verfolge und Verträge umsetze. Und weil das so ist, hat Evonik in Singapurs Forschungscluster „Biopolis“ auch noch einen „Research Hub“ eingerichtet, um dort mit 40 Mitarbeitern auf 1800 Quadratmetern etwa die Zukunft des 3-D-Drucks und „Smart Surface Solutions“ zu erforschen.

Peter Meinshausen

Die Grenzen des Dauererfolgs sind bald erreicht

Und doch: Auch das „Singapur-Modell“ stößt an seine Grenzen – weil die Planbarkeit des Erfolgs nicht mehr so leicht ist wie ehedem – weil ein kleiner Stadtstaat nicht alles gleichzeitig fördern und anpacken kann – Industrie 4.0 und bargeldloser Zahlungsverkehr, Künstliche Intelligenz und Mobilität der Zukunft, Green City und digitale Behörden – und weil sich mit dem Wohlstand Widerstand regt. Der Handelsstreit zwischen China und den USA bremst das Wachstum des Drehkreuzes und Produktionsstandortes: Singapur ist China kulturell verbunden und den USA militärisch. Der industrielle Sektor trägt noch immer 20 Prozent zum BIP in Singapur bei – aber während die Wirtschaftsförderer vom „Economic Development Board“ (EDB) ausländische Fachkräfte wie früher durchwinken wollen, tritt das „Ministry of Manpower“ inzwischen kräftig auf die Bremse, wenn es nicht gerade um Spitzenforscher oder Hilfsarbeiter geht – aus Sorge, die einheimische Bevölkerung könnte sich rühren. Viele der vier Millionen Singapurer fühlen sich bedrängt von den 1,6 Millionen „Gastarbeitern“ – die Bevölkerung ist in den vergangenen 20 Jahren um 40 Prozent gewachsen.

Hinzu kommt: Die Staatsschulden sind hoch, die Fertilitätsrate sinkt (1,14), die Ungleichheit wächst, die Aufwärtsmobilität nimmt ab – und das paukintensive Lernen und der Ehrgeiz vieler Eltern, die ihre Kinder auch nach Schulschluss in „enrichment classes“ aufwerten wollen, verfestigt bereits im Grundschulalter soziale Bruchlinien. Die PAP kann sich nicht mehr sicher sein, bei den nächsten Parlamentswahlen, wahrscheinlich noch in diesem Jahr, 60 Prozent und mehr zu erreichen, auch wenn das Mehrheitswahlrecht ihr erneut eine überragende Mehrheit im Parlament sichern dürfte.

Andererseits ist nicht ausgeschlossen, dass sich das System Singapur auch in eigener Sache als agil erweisen wird. In einer so ausgezeichneten, unabhängigen Buchhandlung wie „Books Actually“ im Szeneviertel Tiong Bahru kann Besitzer Kenny Leck heute auch Titel handeln, die vor zehn Jahren noch ziemlich sicher indiziert worden wären, darunter eine Essaysammlung des in Stanford ausgebildeten Politikwissenschaftlers und heute in HongKong lebenden Journalisten Cherian George („Singapore, Incomplete“), der seine explizite, spöttelnde, oft bissige Kritik an der „air-conditioned nation“ („a political system that treats us like children“) auch auf einer Internetseite (airconditionednation.com) zirkulieren lässt. Oder die großartige, kritische, leicht lesbare Bestandsaufnahme „This is what Inequality Looks Like“, ein Musterbeispiel kritischer Mikrosoziologie aus der Feder der Soziologin Teo You Yenn, ausgebildet an der University of California in Berkeley. Oder auch die Essaysammlung „Hard Choices“, bereits 2014 unter anderem herausgegeben und geschrieben vom Politologen und Ökonomen Donald Low, ausgebildet in Oxford und Washington.

Dass beide, Teo You Yenn und Donald Low, in Singapur leben und arbeiten – sie an der Nanyang Technological Univcersity Singapore, er bei der Strategieberatung Centennial Advisors – spricht für den Transformationswillen des Stadtstaates. Oder doch nicht? Donald Low war bis April 2018 bei der Lee Kuan Yew School of Public Policy als außerordentlicher Professor tätig. Der „Straits Times“ teilte er kurz vor seiner Demission mit, seinem Weggang liege ein „internes Problem“ zu Grunde – und er lehnte es ab, das weiter zu erläutern. Später fügte Low hinzu, dass er Singapurs Kaderschmiede für den politischen Nachwuchs einvernehmlich, „on good terms“ verlässt.

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