Tauchsieder
Quelle: dpa

It’s the common people, stupid!

Donald Trump hat gewonnen. 70 Millionen Amerikaner für sich. Und 74 Millionen gegen sich. Kann Joe Biden den „Kampf der Kulturen“ befrieden? Dazu muss er jetzt schleunigst Trumps Geldbeutelwähler überzeugen.

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Donald Trump hat gewonnen. 70 Millionen Amerikaner für sich. Und 74 Millionen Amerikaner gegen sich. Ein herausragendes Ergebnis, das das Land in den nächsten vier Jahren prägen wird. Trump ist gewählt worden, und er ist abgewählt worden. Dazwischen gibt es nichts. Tertium non datur. Trump hat die Vereinigten Staaten symmetrisch mobilisiert und das Land heftig politisiert; er hat die Demokratie als fragil und gefährdet kenntlich gemacht, sie eben dadurch vitalisiert. Mehr als zwei Drittel aller wahlberechtigten Amerikaner haben ihre Stimme abgegeben; es ist die mit Abstand höchste Wahlbeteiligung seit Jahrzehnten. Ein Fest der amerikanischen Demokratie.

Für Joe Biden ist es eine Bürde. Er hat so viele Stimmen eingesammelt wie kein Kandidat und gewählter Präsident vor ihm, aber er weiß sich nicht getragen von politischer Zuneigung, weiß sich nicht an der Spitze einer Bewegung, weiß keine Leidenschaft seiner Wähler hinter sich. Er ist eine Art Beifang des Trump-Plebiszits, den Amerikanern eher zufällig ins Netz gegangen. Man erwartet sich nichts von ihm. Endlich wieder Benimm und Konzilianz, sicher, ein Zurück zum Klimaabkommen und weg von der Verachtung supranationaler Institutionen. Aber sonst?

Biden wird Scherben aufkehren müssen, lange mit der Schadensregulierung beschäftigt sein, vorerst keine Projekte anstoßen können, die man mit ihm verbindet - nur solche, mit denen er sich von seinem Vorgänger absetzt oder nicht. Seine Präsidentschaft wird nicht glanzvoll sein, im Schatten der Trump-Jahre stehen. Trump regiert nicht mehr. Aber die Richtlinien der US-Politik bestimmt er weiterhin.

Und das nicht nur ex negativo. America first? Systemkonkurrenz zu China? Fest an der Seite Israels? Sanktionspolitik gegen den Iran? Das Zwei-Prozent-Ziel der Nato-Partner? Das Problem der Migration? Trump hat all diese Fragen gestellt und viele beantwortet. Joe Biden bekommt all diese Fragen diktiert - und muss Antworten finden.

Der Bürger der Vereinigten Staaten „hat für die Obrigkeit nur einen misstrauischen und unruhigen Blick“, heißt es in Kapitel sieben von Alexis de Tocquevilles „Über die Demokratie in Amerika“ aus dem Jahr 1840. Es wird oft übersehen, dass dem Solitär Trump nicht nur demokratieverachtende Züge eigneten, sondern dass er auch das altamerikanische Ideal eines staatsverachtenden Staatsmannes verkörperte, das vor allem die republikanische Partei so gern pflegt.

Trump reüssierte als glühender Amtsanarchist, stieg zugleich als Teil und Außenseiter der republikanischen Partei und des politischen Betriebs auf, stand als Präsident exzentrisch wie niemand im Machtmittelpunkt der amerikanischen Demokratie - und aggregierte Gefolgschaft und Loyalität aus der unbedingten Respektlosigkeit, die er täglich twitternd dem politmedialen „Establishment“ zollte.

Man darf das nie vergessen: Die Republikaner haben den maskulinen Libertarismus des New-Frontier-Mythos schon vor Trump als Freiheit vor der Übergriffigkeit eines fernen (und steuerhungrigen) Zentralstaates politisch ausgebeutet - und die (geteilten) Ziele (in) einer modernen „res publica“ bei jeder sich bietenden Gelegenheit ideell untergraben. Sie haben erst den Sozialstaat zur nicht-öffentlichen Angelegenheit erklärt und die Gesundheit privatisiert, dann die Wirtschaft dereguliert - und mit Trump schließlich auch die Demokratie.

Es ist erschütternd (wenn auch wenig überraschend), dass Trump die Legitimität einer demokratischen Wahl bezweifelt. Vielleicht noch erschütternder ist, dass republikanische Senatoren und Abgeordnete sich noch immer nicht im Dutzend von ihm distanzieren. Es fällt schwer, die republikanische Partei noch als Verfassungspartei zu bezeichnen.


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Sie hat sich kapern lassen von einer Familie mit trivialen Talenten und neodynastischen Interessen. Und sie gleicht, solange sie sich nicht von Trump und seinem Clan befreit, einer Kongregation von Politklerikern, denen es um die rituelle Stabilisierung eines binären Weltbildes geht - eines Weltbildes, in dem Demokraten als Sozialisten, Linke als Vaterlandsverächter, Schwule als Gottgestrafte, Sozialpolitiker als Freiheitsfeinde und Journalisten als Defätisten ihren Auftritt haben.

„Die USA sind in eine Lage geraten, die ihre Verfassungsväter unbedingt vermeiden wollten: einen permanenten politischen Bürgerkrieg“, sagt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler im Interview mit dem Handelsblatt. Oder, um es mit Samuel Huntington zu sagen: Der „Kampf der Kulturen“ findet in den USA auf der nationalen Bühne statt.

Und das ganz anders, als Linke ihn sich gerne vorstellen. Trump ist kein Rassist. Er mimt ihn nur. Es geht ihm darum, Dinge zu sagen, die nicht explizit rassistisch sind, wohl aber Ängste auslösen, die vorurteilsreich bewirtschaftet werden können. „Trump ist ein Meister dieser Praxis, etwa indem er Migranten als Kriminelle und Unruhestifter darstellt“, sagt der New Yorker Philosoph Roger Berkowitz im Interview mit dem Philosophie-Magazin: „Nicht zuletzt dadurch gelingt es ihm, weiße Arbeiter zu mobilisieren.“

Aber eben nicht nur die. Trump holte gut zehn Prozent der afroamerikanischen Stimmen und rund 30 Prozent der hispanischen Stimmen. Er „hat also mehr dafür getan, um seine Wählerschaft zu diversifizieren, als jeder Republikaner in der Vergangenheit“, so Berkowitz. Er punktet, über alle ethnischen Unterschiede hinweg und nicht ohne Grund, bei allen Geldbeutelwählern.

Für die Demokraten bedeutet das: Sie sind noch weit entfernt davon, den alten Industriegürtel (wieder) zu beherrschen. Sie werden im „Manufacturing-went-Rust-Belt“ noch immer als Partei verdächtigt, der identitätspolitische Sensibilitäten wohlhabender Küstenbewohner womöglich wichtiger sind als die alltäglichen Sorgen der alten Arbeiterklasse und des neuen Dienstleistungsproletariats. Sie haben sich zu lange darauf verlassen, eine „natürliche“ Anlaufstelle von Minderheiten zu sein - und Bill Clintons „It’s the economy, stupid“ nicht beim sozialdemokratischen Wort genommen.



Andererseits sind die Erfolge Trumps unter den Minderheiten auch nicht überzubewerten: Im südlichen „Sun Belt“, der traditionell republikanisch wählt, profitieren die Demokraten, Florida zum Trotz, vom demographischen Großtrend: Die Hispanics sind in den USA die am schnellsten wachsende Wählergruppe (plus 15,5 Millionen von 2010 bis 2018) - weit vor den Weißen (9,8 Millionen), und sie wählen mehrheitlich demokratisch.

Die Republikaner stehen daher vor einer schweren Zerreißprobe: Sie müssen entweder den Trumpismus forcieren, also das Land noch stärker im Wege der Desinformation und Manipulation tribalisieren und polarisieren, um einerseits eine relativ schrumpfende Wählergruppe (weiße, männliche, ältere, religiöse Landbewohner und Großbusinessfreunde), andererseits eine nationalstolzbereite Arbeiterschaf mit Blick auf die Wahlen 2024 noch einmal fundamentalrhetorisch mobilisieren zu können.

Oder aber sie schwenken auf einen Kurs der Versöhnung ein - und versuchen, die demokratische Partei auf ihrem eigenen Feld zu schlagen: mit einem normativ anspruchsvollen, inklusiven Angebot an alle Amerikaner auf der Basis eines positiven Wettbewerbs der Ideen, der wissenschaftlichen Expertise und der Ideale der Aufklärung.

Joe Biden wird den Amerikanern dieses Angebot unterbreiten - und dabei nicht zuletzt von Trumps symmetrischer Mobilisierung profitieren. Berkowitz sieht bereits „eine Renaissance des Aktivismus politischen Engagements“, vor allem unter jungen Leuten, sieht mittelfristig die Chance auf eine Wiederbelebung der amerikanischen Demokratie, abseits verhärteter Fronten.

Das kann gelingen - wenn auch die Demokraten ihre Politik gründlich diversifizieren; nicht nur als Aktivisten identitätspolitischer Glasperlenspielereien und klimaglobaler Menschheitsziele Ehrgeiz entwickeln, sondern auch als Lobbyisten eines finanziell nachhaltigen Wirtschaftsmodells und sozialliberales Gewissen der Nation und ihrer Bürger: „It’s the common people, stupid!“

Mehr zum Thema: Sigmar Gabriel, Vorsitzender der Atlantik-Brücke, über die transatlantischen Beziehen nach der US-Wahl.

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