Tauchsieder
Quelle: dpa Picture-Alliance

Kalte Kriegswirtschaft? Darum geht es jetzt

China hofiert die Mullahs, droht Taiwan zu erobern – und Europas Energiewende zu sabotieren. Russland blutet die Ukraine aus – und schrumpft die Arsenale der Nato. Und wir? Wurschteln uns durch. Eine Kolumne.

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„Rohstoff-Wirtschaft! Ein abstraktes, bildloses Wort“, hebt der deutsche Top-Manager an, und doch auch „ein Begriff von großer Schwerkraft“: Die moderne Warenwelt, der Wohlstand der Nationen, der Reichtum speziell Deutschlands – all das basiere auf der Zufuhr und der Verarbeitung von Grundstoffen. Alle Wirtschaft sei heute „unauflöslich verquickt“, weshalb alle Wirtschaftspolitik in Zeiten elementarer Krisen „die Frage der Deckung“ vorrangig adressieren und lösen müsse: „Nie wieder kann und darf es geschehen, dass wir wirtschaftlich unzulänglich vorbereitet“ sind, dass ein Konflikt oder Krieg uns überrascht.

Das große Problem, so führt der in Berlin bestens vernetzte Manager im Kreise von Vertrauten und Mitstreitern aus: Die Deutschen verstünden den Ernst der Lage nicht. Sie spürten noch keinen Mangel und kaum Einschränkungen, seien im Prinzip noch immer „der Ansicht, dass die Rohstoffversorgung ganz von selbst geht“. Doch davon könne schon längst keine Rede mehr sein. Im Gegenteil. Die Globalisierung sei prekär geworden, der Traum vom ungestörten Warenfluss ausgeträumt. Es komme jetzt darauf an, ein „neues wirtschaftliches Leben“ zu organisieren. Und präzise zu bestimmen, „auf wieviel Monate das Land mit unentbehrlichen Stoffen versorgt“ sei.

Es gehe jetzt darum, „höchste Tatkraft und Schaffenslust“ seitens der Industrie zu entfesseln, um Produktionslücken zu schließen – und „gewaltige Lager“ vorzuhalten, um im Falle abreißender Lieferketten gut vorbereitet zu sein. Die Politik müsse verlässliche „Verständigungen“ und Partnerschaften mit dem „neutralen Ausland“ schließen und auf der Basis einer laufend anzupassenden Rohstoff-Strategie handeln – und natürlich auch eine Art Dashboard für Informationen in Echtzeit vorhalten: „Wir müssen nicht nur dauernd wissen, was wir an Unentbehrlichem im Lande haben, sondern wir müssen auch dauernd dafür sorgen, dass wir so viel im Land haben, wie wir brauchen.“

Mehr als hundert Jahre ist das nun her. Und der deutsche Top-Industrielle, der hier spricht, heißt Walter Rathenau. Deutschland hat gerade den Ersten Weltkrieg vom Zaun gebrochen, um sich einen „Platz an der Sonne“ (Bernhard Bülow) zu sichern. Und Rathenau, später Außenminister der Weimarer Republik, ist damals „Präsident der AEG“, bekannt als Kartellist, Lobbyist in eigener Sache und erster Rüstungsmanager des Landes, ein Sammler von rund 80 Aufsichtsratsmandaten, eng vertraut mit Kriegsminister Erich von Falkenhayn – und von dessen Gnaden betraut mit der Leitung der „Kriegsrohstoffabteilung“, einer Behörde, die auf Initiative Rathenaus im ersten Kriegsmonat (August 1914) gegründet wurde, um die Beschaffung und Verteilung kritischer Ressourcen zu organisieren.

Kein Vergleich also. Mehr als hundert Jahre her. Muss uns das heute noch interessieren? Nun, immerhin liest sich schon der Titel von Rathenaus Vortrag in der „Deutschen Gesellschaft 1914“ am 20. Dezember 1915, wie die Überschrift einer Beschlussvorlage des Berliner Wirtschaftsministeriums anno 2023: „Die Organisation der Rohstoffversorgung“.

Geschichte wiederholt sich nicht, schon klar. Man kann sie nicht lernen wie Lateinvokabeln, schon gar nicht „aus ihr“ lernen. Historiker markieren im vergleichenden Rückblick daher allenfalls Ähnlichkeiten – und weisen vor allem entlang der Unterschiede zwischen geschichtlichen und gegenwärtigen Ereignissen „Analogien mittlerer Reichweite“ (Jörn Leonhardt) auf. Sie unternehmen maximal den bescheidenden Versuch, das Neue, Präzedenzlose vor dem Hintergrund einer allgemeinen „Grammatik der Geschichte“, das Einmalige in seinen Wiederholungsstrukturen aufscheinen zu lassen (Reinhart Koselleck). Das ist alles. Aber das ist schon viel.

Und so muss uns heute etwa die strategische Klarsicht irritieren, mit der Rathenau das damalige (geografische) Kardinalproblem Deutschlands erfasst und sofortpolitisch adressiert: „Ja, wir grenzen an drei Meere, wir mit unseren Verbündeten, aber was sind sie?“, was sind Nordsee, Ostsee, Mittelmeer, fragt Rathenau und antwortet sich selbst: leicht abzuriegelnde „Binnenseen“. Und so muss uns im geschichtlichen Rückblick die strategische Paralyse irritieren, mit der die Regierenden in Berlin heute auf eine abermals „historische“, diesmal geopolitische Weltlage (nicht) reagieren – und die heutigen (militärischen und wirtschaftlichen) Kardinalprobleme Deutschlands wenn nicht ignorieren, so doch durch Tatenarmut marginalisieren.

Wie kann das sein? China und Russland haben sich bekanntlich am 4. Februar 2022 gegen den Westen verschworen mit dem Ziel, die „internationalen Beziehungen in eine neue Ära eintreten“ zu lassen. Und Russland versucht seit dem 24. Februar 2022 (mit dem Segen Chinas) eine Nation in Europa auszulöschen. Die beiden Bündnispartner verbreiten seither recht erfolgreich die Erzählung, die USA, die Nato und EU-Europa seien die eigentlichen Aggressoren, und das nicht nur mit Blick auf den Krieg in der Ukraine: Aggressoren, die im Dienste ihrer globalen Hegemonialansprüche und partikularen Wohlstandsinteressen rücksichtslos ihre Einflussgebiete und Interventionsspielräume erweitern.

Beim Eintreten des Westens für Menschenrechte, Demokratie, Rechtssicherheit und Meinungsfreiheit, so das Peking-Moskau-Narrativ, handele es sich daher in Wahrheit nur um eine Maskerade bislang dominanter Mächte: Die USA und Europa seien am „mutual benefit“ der Nationen nicht interessiert, ächteten andere Staatsformen, Kulturkreise und Religionen – und suchten ambitionierte Schwellenländer mit alternativen Entwicklungspfaden klein zu halten – zum Schaden der „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ (Xi).

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Es ist eine böswillige Lüge, die Wladimir Putin, Xi Jinping und die Mullahs in Iran inzwischen nicht nur teilen, sondern auch eng aneinanderbindet. Eine Lüge, die in vielen Autokratien und Demokratien der Welt zirkuliert. Eine Lüge, die viele Milliarden Menschen – in China, Russland und der arabischen Welt, aber auch in Asien und Südamerika und Afrika – bejahen. Eine Lüge, die eine weltpolitische Tatsache ist. Mit der der Westen zu rechnen hat. Er hat es mit zwei vormals autokratischen, inzwischen totalitären Mächten zu tun, die nicht mehr an Kooperation interessiert sind, sondern die offene Konfrontation suchen: zwei machtvolle politische Akteure, die die antikolonialen und antiamerikanischen Affekte des „Globalen Südens“ rücksichtslos ausbeuten und schon seit einigen Jahren in Worten und Taten nicht mehr verhehlen, die internationale Rechtsordnung zerstören zu wollen.

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