Tauchsieder
Singapur: Konsumsedierte Massen schieben sich an Wochenenden durch immer neue Shopping-Malls und erwecken dabei den Eindruck, sich von allerlei albernen Wasserspielen und Licht-Shows allzu gern ruhig stellen zu lassen. Quelle: imago images

Kann Singapur es besser als wir?

Die Wirtschaft liebt den Stadtstaat und seine Regierungs-Technokraten – aus guten Gründen. Das zeigt das Beispiel Evonik. Aber unter der polierten Benutzeroberfläche rumort es.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Eine Reise nach Singapur ist immer auch eine Reise in die Konfrontation mit dem eigenen, liberal-demokratisch geprägten Weltbild. Alles scheint so herrlich glatt und rund zu laufen im kleinen Stadtstaat an der südöstlichen Spitze des asiatischen Kontinents. Singapur ist sauber und sicher, wohlhabend und gut durchorganisiert; die Stadt offeriert Managern niedrige Steuern und Wissenschaftlern optimale Forschungsbedingungen, punktet bei Touristen mit einer polierten Benutzeroberfläche und bei den Singapurern selbst – hauptsächlich Chinesen (74 Prozent), Malaien (13 Prozent) und Inder (9 Prozent) – seit mehr als fünf Jahrzehnten mit einer masterplanwirtschaftlichen Politik der Wohlstandsmaximierung.

Kein Zweifel: Die Regierenden in den kriselnden liberalen Demokratien des Westens müssen den Erfolg Singapurs als Herausforderung begreifen, wollen sie das Vertrauen weiter Teile ihrer Bevölkerungen zurückgewinnen. Die ganz eigentümliche, bis dato sehr erfolgreiche Kombination von Autokratie, Technokratie und Meritokratie wird bereits in einigen Ländern Asiens und Afrikas kopiert – und es ist nicht das kaderkommunistische, kontrollwahnhafte, scharf nationalistische und antidemokratische „System China“, das eine „harmonische Gesellschaft“ erzwingt, mit dem die Europäer im 21. Jahrhundert weltweit konkurrieren, sondern das „Modell Singapur“: ein geschäftsmäßiges Best-Practice-Modell, das erklärungsunbedürftige Zivilisationsfortschritte durch die Befleißigung von Sekundärtugenden anstrebt, das auf Strenge, Disziplin und (Unter-)Ordnung setzt, auf empirisch gestützte Nutzenoptimierung, auf ein wissenschaftlich unterlegtes Sozialingenieurswesen.

Die große Provokation Singapurs liegt in der fast schon philosophenköniglichen Exzellenz seiner Eliten und in der fast schon stoischen Bereitschaft der Bevölkerung, sich von der People’s Action Party (PAP) des Staatsgründers Lee Kuan Yew gut regieren zu lassen, genauer: in der fast vollständigen Ausschaltung von politischen Idealen und ökonomischen Dogmen zugunsten gut geplanter, pragmatischer Lösungen, im unbedingten Vorrang des Nützlichen für die Mehrheit der Bevölkerung vor der Protektion des Wünschbaren für Minderheiten – und in der weitgehenden Ausschaltung von Parteien- und Meinungsstreit zugunsten einer streng leistungsbezogenen und ergebnisorientierten Regierungspolitik, die Konsens nicht über Wahlen, sondern über Mechanismen der Rückkopplung und die Organisation von Feedback-Schleifen herstellt: über „konstruktiven Journalismus“ und eine „internalisierte Opposition“, über die algorhythmische Auswertung von Social-Media-Aktivitäten und einen sorgsam kanalisierten Volks-Input.

Kurzum, nach jedem Besuch in Singapur stellt man sich Fragen: Wie wichtig sind die Prozeduren der Partizipation und des Parlamentarismus im Hinblick auf gutes, lösungsorientiertes Regieren? Wie bedeutsam sind heute, angesichts der fortschreitenden Optimierung datenbasierter Analyse-Software, noch demokratische Wahlen zur Ermittlung des politischen Willens? Und wie zentral für das Wohlergehen und die politische Selbstaufklärung der Bürger ist sie wirklich, die Debattenkultur unserer „offenen Gesellschaft“ – in der Regierende sich die Herrschaft über die Bilder aneignen wollen (CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer) und Präsidenten über Twitter Kriege erklären?

Prozeduren der Partizipation? Man denkt gleich an die vielen „Nimbys“ in Deutschland, die kollektive Güter auf dem Altar ihrer Privatinteressen opfern – an Windräder und Stromtrassen, die not in my backyard gebaut wurden, obwohl wir doch alle gemeinsam das Weltklima retten wollen.

Parlamentarismus? Es fällt einem sofort das britische Unterhaus mit seinen vielen klugen Abgeordneten und gewitzten Rhetoren ein – die sich seit drei Jahren handlungsunfähig zeigen und die Spaltung des Landes vertiefen. Oder auch der Deutsche Bundestag, der sich im Rahmen der Euro-Krise zum Büttel der Gubernative degradiert hat, um „alternativlose“ Entscheidungen in Serie abzunicken.

Demokratische Wahlen? Man denkt an die USA, wo Wähler über Facebook und Instagram permanent bot-bearbeitet und propagandaversorgt werden, wo am Ende gerade mal die Hälfte aller Wahlberechtigten – de facto sogar nur die Bürger einiger weniger „Swing States“ – alle vier Jahre darüber befindet, ob ein Multimillionär der Republikaner oder ein Multimillionär der Demokraten zum Präsidenten gekürt wird.

Und Debattenkultur? Wo bitteschön ließe sie sich noch antreffen im politmedialen Raum, in dem vor allem Schlagworte („Digitalisierung“) und Symbole („Kopftuchverbot“), Personen („AKK“, „Nowabo“) und der Zeitgeist („Klimanotstand“) verhandelt werden – zumal in den asozialen Medien, in denen selbstgerechte Stumpfmoralisten täglich ihr Mütchen kühlen, in denen identitätsverliebte Propagandisten des Bösen (die „Nazis“), des Guten (die „Nicht-Nazis“) und des Marginalen („meine Oma ist ´ne alte Umweltsau“) an der Verschärfung ihres wechselseitigen Unverständnisses arbeiten, partikulare Stämme ausbilden und sich zu inzestuösen Teil-Öffentlichkeiten formieren – in denen selbst Journalisten zu Agitatoren verkommen, um keine Argumente mehr zu wägen zu müssen, weil es viel leichter ist, auf der Basis prästabilierter Urteile, Falschheiten und Unterstellungen seine Meinungswaffen zu wetzen?

Systemstabilität sichert Loyalität

Es sind vor allem zwei Entwicklungen, die dem „System Singapur“ derzeit in die Hände spielen – sowohl in reifen Volkswirtschaften als auch in sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländern.

Erstens: Der Datenkapitalismus löst im Namen der Bequemlichkeit die Grenzen zwischen Selbstbestimmung und Fremdsteuerung auf – seine Algorithmen und Apps bieten sich uns als freundliche Lotsen durch eine Informations- und Konsumwelt an, durch deren Pluralität wir uns paradoxerweise zunehmend konformistisch bewegen: Man huldigt dem Besonderen, Einzigartigen, Ausgezeichneten und Unvergleichlichen (Seht her, das ist mein großartiges Facebook-Ich!) – aber man prämiert und bewertet sich in allgemeinen (Infra-)Strukturen, Netzwerken und Praktiken (Like!). Das spielt fraglos politischen Systemen in die Hände, denen es vor allem darum geht, Störungen zu vermeiden, möglichst friktionslos durchzuregieren. Denn der Smartphone-Bürger der Zukunft wird nicht mehr beherrscht, sondern berechnet, in seiner Berechenbarkeit zunehmend leicht regierbar, und es scheint, dass planmäßig agierende Staaten wie Singapur auch deshalb besonders von der Digitalisierung profitieren, weil ihre traditionell starken (Aufsichts-)Behörden Daten viel ungenierter verarbeiten als die Institutionen demokratischer Systeme.

Zweitens wird es in den bevölkerungsreichsten Ländern und Regionen der Welt in den nächsten Jahrzehnten, wie in Lee Kuan Yews Singapur vor gut 50 Jahren, vor allem um elementare Verbesserungen des Lebensstandards gehen, um die entschlossene, durchdachte, interessengeleitete Entfesselung wirtschaftlicher Potenziale – jedenfalls nicht um die Befriedigung postmaterieller Bedürfnisse und identitärer Befindlichkeiten. Und das spielt fraglos einem politischen Paternalismus in die Hände, in dem Regierende versprechen, „zum Besten der gesamten Bevölkerung“ zu handeln und kollektive Interessen adressieren. Solange sie das erfolgreich und unideologisch tun, solange sie den Wohlstand ihrer Bürger mehren und damit auch deren basale Freiheit – gedacht als Abwesenheit von Hunger, Willkür, Not – solange sie religiöse und kulturelle Praktiken schützen, den Wucher, die Kriminalität und die Korruption bekämpfen, solange sie soziale und ethnische Konflikte entschärfen, steuerfinanzierte Programme für Bildung, Gesundheit, Wohnungsbau und Altersversorgung aufsetzen, Ordnung herstellen und für (Rechts-)Sicherheit sorgen, kurz: solange die Regierenden mit sozialer Systemstabilität auch Systemloyalität herstellen – solange dürften die Bürger dieser Länder, ganz wie in Singapur, auch ihre Technokraten in Ruhe regieren lassen.

Natürlich können Länder wie Deutschland sich kein Beispiel nehmen an Singapur, nichts lernen, kopieren, übernehmen – zu unvergleichlich sind die Prägungen der (Ideen-)Geschichte, die politischen Traditionen, die gesellschaftlichen Ideale und Voraussetzungen, auf denen die Erfolge der beiden Länder beruhen. Oder schärfer formuliert: Jeder liberal denkende Mensch muss das „Modell Singapur“ rundheraus ablehnen. Schulen, Medien und Kultur werden staatlich kontrolliert, die Bevölkerung wird engmaschig überwacht. Freitags, im Morgengrauen, hängen sie hier immer noch Drogendealer. Homosexualität wird nach wie vor kriminalisiert. Der Meinungsfreiheit sind enge Grenzen gesetzt. Und der narzisstische Stolz, in den sich die autokratischen Eliten hier einkleiden, ihr Wille zur Auto-Mythologisierung als tugendhafte, weise Staatsmänner von überragendem Format ist fast schon so komisch wie der Anblick der konsumsedierten Massen, die sich an Wochenenden durch immer neue Shopping-Malls schieben und dabei den Eindruck erwecken, sich von allerlei albernen Wasserspielen und Licht-Shows allzu gern ruhig stellen zu lassen. Auch würde in Deutschland wohl niemand akzeptieren, dass der Staat zum Beispiel darüber bestimmt, wieviel Wohnquadratmeter einer jungen Durchschnittsfamilie in standardisierten Hochhäusern zur Verfügung stehen.

Staatsgründer Lee Kuan Yew hätten diese Einwände nicht angefochten. Er hat das geographisch günstig gelegene Singapur seit seiner Unabhängigkeit 1965 zum Umschlagplatz des Welthandels umgebaut und als sicheren Hafen für Auslandsinvestitionen positioniert – hat amerikanische und europäische Konzerne, die damals begannen, ihre besonders arbeitsintensive und umweltbelastende Produktion auszulagern, mit niedrigen Arbeitskosten und einem attraktiven Steuerregime, mit Rechtssicherheit und sozialer Stabilität (sprich: Kontrolle der Gewerkschaften und strafende Disziplinierung der Bevölkerung), mit einer liberalen Einwanderungspolitik (besonders für Hochqualifizierte und Geringqualifizierte) und hohen Subventionen nach Singapur gelockt – und sein Land buchstäblich angereichert mit Auslandskapital. Und er hat dieses Kapital gut angelegt: in zwei Staatsfonds und Sozialprogrammen, in politische Expertise und den Ausbau der Infrastruktur, in Landgewinnungsprojekte und touristische Attraktionen, in die besten Universitäten des Kontinents und in eine ikonografische Architektur, die dem Singapur von Lee Kuan Yews Nachfolger (sein Sohn Lee Hsien Loong) heute dabei hilft, sich als globale „Smart City“ und „Green City“ zu vermarkten.

Ideales Umfeld für ausländische Unternehmen

Es gibt womöglich keinen Ausländer, keinen Besucher der Stadt, dem diese Erfolgsgeschichte nicht mindestens Respekt abnötigt. Peter Meinshausen zum Beispiel, „Regional President Evonik Asia Pacific South“. Wir treffen uns im Tamarind Hill, einem thailändischen Restaurant in einer schwarz-weißen Villa aus dem 19. Jahrhundert, sehr hübsch gelegen im Tropenwald des Labrador Nature Reserve im Süden Singapurs, nicht weit entfernt von der Vergnügungsinsel Sentosa – und das Hühnchen im exzellenten „Green Curry“ spielt so etwas wie die Hauptrolle in der kleinen Geschichte, die Meinshausen gleich erzählen wird. Der Essener Spezialchemiehersteller hat gerade eine halbe Milliarde Euro in Singapur investiert, so viel wie noch nie und nirgends sonst in der Geschichte des Konzerns. Und warum ausgerechnet hier? Meinshausen muss kurz überlegen. Es gibt so viele Gründe. Und alle sprechen für Singapur.

Da ist zunächst einmal der asiatische Markt. Evonik stellt in Singapur Methionin her, einen Ernährungszusatz zur Steigerung der Effizienz in der Fleischproduktion, wenn man es betriebswirtschaftlich ausdrücken will, man kann aber auch sagen: eine Aminosäure, die Bauern dem Futter beimischen, damit ihre Schweine und Hühner früher schlachtreif sind. Mit der neuen Produktionsanlage verdoppelt Evonik seine Produktion in Singapur auf 300.000 Tonnen jährlich, steigert den Anteil des Standorts Singapur an der weltweiten Jahresproduktion auf 40 Prozent. Das also ist Grund Nummer eins: die Nähe zum großen asiatischen Lebensmittelmarkt – zu drei Milliarden Menschen, die gerne Schweine- und Hühnchenfleisch essen: Der Konzern muss hier schneller wachsen als das BIP. Eine Hälfte des Methionins exportiert Evonik von hier nach China, die andere Hälfte in die übrigen Länder Südostasiens.

Grund Nummer zwei: Mit der seit Jahrzehnten konsequent ausgebauten Petrochemie-Insel Jurong bietet Singapur dem Konzern ein ideales Umfeld für die riskante Produktion der Aminosäure. Werksleiter Bo Halsberghe wird es später anhand von Schaubildern ausführlich erklären: Der Lebensmittelzusatz entsteht aus Ammoniak, Methan, Schwefel, Methanol und Propan, dabei entstehen toxische, hochreaktive, instabile Gefahrenstoffe (etwa Acrelein) – aber weil alle Zutaten hier von Partnerfirmen über Leitungen just-in-time in den Produktionsprozess eingespeist werden können, kann Halsberghe die Risiken der Lagerung und eines Chemieunfalls hier bestens minimieren.

Grund Nummer drei: Singapur hat Evonik bei seiner Investition massiv unterstützt, obwohl die Essener den Stadtstaat mit gerade mal 100 neuen Arbeitsplätzen beschenken. Denn Singapur hat mal wieder einen Masterplan – und wer hilft, ihn zu erfüllen, ist immer hochwillkommen. 30 Prozent seiner Nahrung will der Stadtstaat bis 2030 selbst herstellen, mit Fisch- und vertikalen (Hochhaus-)Gemüsefarmen – da passt ein Produzent von Ernährungszusätzen bestens ins Konzept. Auch genießt Evonik in Singapur seit dem Bau seiner ersten Anlage im Jahr 2008 „Pionierstatus“: Der Konzern bekommt Steuererleichterungen eingeräumt und wird mit „manpower grants“ ausgestattet, weil er eine Mindestzahl einheimischer Arbeitskräfte beschäftigt. Das politische Handeln sei hier halt sehr von der Wirtschaft bestimmt, sagt Meinshausen, und er versteht das unbedingt als Lob. Das Umfeld sei freundlich und fordernd zugleich. Umsonst gebe es in Singapur gewiss nichts, aber wenn man das „Matching“ stimme, gingen die Dinge stets schnell und reibungslos voran.

Grund Nummer vier: Singapur garantiert Evonik Rechtssicherheit und den Schutz seines geistigen Eigentums. Peter Meinshausen würde nie sagen, das sei etwa in China anders. Er sagt nur, dass man sich in Singapur unbedingt aufs gesprochene Wort der Regierenden verlassen kann und auf den Willen zur Exzellenz in der Politik, auf hochagile, gut ausgebildete Fachleute in den Behörden – und auf die Aktivität, ja: positive Aggressivität, mit der man hier Pläne verfolge und Verträge umsetze. Und weil das so ist, hat Evonik in Singapurs Forschungscluster „Biopolis“ auch noch einen „Research Hub“ eingerichtet, um dort mit 40 Mitarbeitern auf 1800 Quadratmetern etwa die Zukunft des 3-D-Drucks und „Smart Surface Solutions“ zu erforschen.

Peter Meinshausen

Die Grenzen des Dauererfolgs sind bald erreicht

Und doch: Auch das „Singapur-Modell“ stößt an seine Grenzen – weil die Planbarkeit des Erfolgs nicht mehr so leicht ist wie ehedem – weil ein kleiner Stadtstaat nicht alles gleichzeitig fördern und anpacken kann – Industrie 4.0 und bargeldloser Zahlungsverkehr, Künstliche Intelligenz und Mobilität der Zukunft, Green City und digitale Behörden – und weil sich mit dem Wohlstand Widerstand regt. Der Handelsstreit zwischen China und den USA bremst das Wachstum des Drehkreuzes und Produktionsstandortes: Singapur ist China kulturell verbunden und den USA militärisch. Der industrielle Sektor trägt noch immer 20 Prozent zum BIP in Singapur bei – aber während die Wirtschaftsförderer vom „Economic Development Board“ (EDB) ausländische Fachkräfte wie früher durchwinken wollen, tritt das „Ministry of Manpower“ inzwischen kräftig auf die Bremse, wenn es nicht gerade um Spitzenforscher oder Hilfsarbeiter geht – aus Sorge, die einheimische Bevölkerung könnte sich rühren. Viele der vier Millionen Singapurer fühlen sich bedrängt von den 1,6 Millionen „Gastarbeitern“ – die Bevölkerung ist in den vergangenen 20 Jahren um 40 Prozent gewachsen.

Hinzu kommt: Die Staatsschulden sind hoch, die Fertilitätsrate sinkt (1,14), die Ungleichheit wächst, die Aufwärtsmobilität nimmt ab – und das paukintensive Lernen und der Ehrgeiz vieler Eltern, die ihre Kinder auch nach Schulschluss in „enrichment classes“ aufwerten wollen, verfestigt bereits im Grundschulalter soziale Bruchlinien. Die PAP kann sich nicht mehr sicher sein, bei den nächsten Parlamentswahlen, wahrscheinlich noch in diesem Jahr, 60 Prozent und mehr zu erreichen, auch wenn das Mehrheitswahlrecht ihr erneut eine überragende Mehrheit im Parlament sichern dürfte.

Andererseits ist nicht ausgeschlossen, dass sich das System Singapur auch in eigener Sache als agil erweisen wird. In einer so ausgezeichneten, unabhängigen Buchhandlung wie „Books Actually“ im Szeneviertel Tiong Bahru kann Besitzer Kenny Leck heute auch Titel handeln, die vor zehn Jahren noch ziemlich sicher indiziert worden wären, darunter eine Essaysammlung des in Stanford ausgebildeten Politikwissenschaftlers und heute in HongKong lebenden Journalisten Cherian George („Singapore, Incomplete“), der seine explizite, spöttelnde, oft bissige Kritik an der „air-conditioned nation“ („a political system that treats us like children“) auch auf einer Internetseite (airconditionednation.com) zirkulieren lässt. Oder die großartige, kritische, leicht lesbare Bestandsaufnahme „This is what Inequality Looks Like“, ein Musterbeispiel kritischer Mikrosoziologie aus der Feder der Soziologin Teo You Yenn, ausgebildet an der University of California in Berkeley. Oder auch die Essaysammlung „Hard Choices“, bereits 2014 unter anderem herausgegeben und geschrieben vom Politologen und Ökonomen Donald Low, ausgebildet in Oxford und Washington.

Dass beide, Teo You Yenn und Donald Low, in Singapur leben und arbeiten – sie an der Nanyang Technological Univcersity Singapore, er bei der Strategieberatung Centennial Advisors – spricht für den Transformationswillen des Stadtstaates. Oder doch nicht? Donald Low war bis April 2018 bei der Lee Kuan Yew School of Public Policy als außerordentlicher Professor tätig. Der „Straits Times“ teilte er kurz vor seiner Demission mit, seinem Weggang liege ein „internes Problem“ zu Grunde – und er lehnte es ab, das weiter zu erläutern. Später fügte Low hinzu, dass er Singapurs Kaderschmiede für den politischen Nachwuchs einvernehmlich, „on good terms“ verlässt.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%