Tauchsieder
Siemens-Chef Joe Kaeser Quelle: REUTERS

Sollte Joe Kaeser twittern?

Siemens-Chef Joe Kaeser rezensiert das Weltgeschehen. Er lobt Seenotretter, tadelt die AfD, verurteilt US-Präsident Donald Trump. Das ist oft moralisierend, gratismutig, unglaubwürdig – und doch: kein schlechter Anfang.

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Josef Käser ist jetzt 62 Jahre alt und ziemlich wohlhabend, sein Arbeitsvertrag läuft in anderthalb Jahren aus. Er hat also in seinem Berufsleben nicht mehr viel zu verlieren, kann sich Haltung leisten. Und das tut der Niederbayer auch, als Chef eines Weltkonzerns, als CEO „Joe Kaeser“, als „one of 387.000 dedicated Siemens employees“ auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.

Im Mai 2018 weist er AfD-Fraktionschefin Alice Weidel zurecht. Die „schrille Person“, so Kaeser, hat im Bundestag scharf rechtsnational Stimmung erzeugt gegen „Messermänner“ und „Kopftuchmädchen“. Kaeser sitzt in einer Frankfurter Flughafen-Lounge und twittert: „Lieber ‚Kopftuch-Mädel’ als ‚Bund Deutscher Mädel‘“.

Ende Juni 2019 adelt der Siemens-Chef Seenotretterin Carola Rackete, die trotz eines Verbots des rechtsnationalen Innenministers Matteo Salvini 40 Migranten nach Italien verschifft hat und daraufhin festgenommen wird. Kaeser twittert: „Menschen, die Leben retten, sollten nicht verhaftet werden. Menschen, die töten, Hass und Schaden säen und fördern, sollten es.“ Und vor einigen Tagen maßregelt Joe Kaeser dann US-Präsident Donald Trump, der mehrfach vier demokratische Abgeordnete (und Frauen) verhetzt, die Trump ersichtlich unamerikanisch erscheinen. Kaeser twittert: „Es bedrückt mich, dass das wichtigste pol. Amt der Welt das Gesicht von Rassismus und Ausgrenzung wird.“

Nun herrscht verbreitet Ratlosigkeit, ob Joe Kaeser sich und Siemens mit seinen Tweets einen Gefallen tut. Ob der Manager eines Dax-30-Unternehmens sich ins politische Tagesgeschäft einschalten soll oder nicht. Ob Kaeser sich mutig und zivilcouragiert verhält – oder gratismutig und doppelmoralisch. Kaeser hat mit seinem Trump-Tweet bei Twitter 1500 Herzen eingesammelt. Die FAZ berichtet, der Bund der Deutschen Industrie (BDI) begrüße es, wenn prominente Köpfe der Wirtschaft zu politischen Themen Stellung bezögen; Manager und Unternehmer müssten rein in die öffentlichen Diskurse. Die Siemens-Aufsichtsratsvorsitzende Jim Hagemann Snabe dagegen, heißt es weiter, will sich zu dem Thema lieber nicht äußern. Und Managementberater Reinhard Sprenger, Kolumnist der WirtschaftsWoche, geht mit Joe Kaeser in der WELT hart ins Gericht: Der Siemens-Chef handle „selbstherrlich und übergriffig“. Er verwalte als Angestellter „Geld, das ihm nicht gehört“, sei an die „Weisung des Aktionariats“ gebunden, „für eine politische Meinungsäußerung nicht autorisiert“, habe „die Interessen seiner Kapitalgeber zu erfüllen, keine Glaubensbekenntnisse abzulegen“. Kaeser habe sich jeglicher „Moralisierung“ zu enthalten, von der „Inszenierung privater Rechtschaffenheit“ abzusehen. Womit zwei einfache Fragen aufgeworfen wären, die gar nicht leicht zu beantworten sind: Darf Joe Kaeser twittern? Und wenn ja: Soll er es auch?

Zunächst: Natürlich darf Joe Kaeser twittern. Aber natürlich muss er auch wissen, dass er die Welt nicht als einer von vielen Siemens-Angestellten bemeint – nicht als „one of 387.000 employees“ sondern als „first of 387.000 employees“. Niemand interessiert sich dafür, wie Josef Käser aus dem Landkreis Regen Alice Weidel beurteilt. Wohl aber dafür, was der Chef eines deutschen Traditionsunternehmens von Äußerungen einer AfD-Abgeordneten hält.

Die politische Meinung der Privatperson Joe Kaeser ist auf der Plattform Twitter identisch mit der politischen Meinung des Siemens-Chefs – nicht mit der der Siemens-Belegschaft und auch nicht der von Siemens, versteht sich, weil das Unternehmen den Anteilseignern gehört. Man muss hier sehr sorgfältig unterscheiden: zwischen der Privatperson Josef Käser, der öffentlichen Person Joe Kaeser – und der gewinnorientierten Organisation Siemens, bei der Joe Kaeser einer von vielen Angestellten ist. Wenn Joe Kaeser twittert, twittert er nicht als einer von vielen Mit-Angestellten, schon gar nicht in deren Namen. Es twittert auch nicht Siemens als juristische Organisation. Sondern es twittert die öffentliche Person Joe Kaeser kraft einer Autorität, die das Unternehmen Siemens ihm verleiht: „Joe Kaeser, CEO Siemens“. Joe Kaeser sollte seinen Account dahingehend ändern.

Die zweite Frage ist noch schwieriger zu beantworten. Soll Joe Kaeser twittern? Spontan gesprochen: „Kommt ganz drauf an!“ Twitter ist ein vierfach gefährliches Medium. Es reizt zum undurchdachten Bemeinen und zwingt zur Verknappung, Zuspitzung, Pointe. Es lässt auch kluge Menschen zuweilen ihre wägende Vernünftigkeit suspendieren, zu aktivistischen Unterkomplexitäten neigen – und es begünstigt dadurch Spiralen des absichtsvollen Missverstehens.

Joe Kaeser zum Beispiel sind zwei von vier politischen Tweets missglückt. Beim Thema Migration opfert er seine Redlichkeit auf dem Altar eines platten Moralismus. Kaeser will nichts von geltenden Gesetzen, italienischen Interessen und moralischen Dilemmata, nichts von der Unterscheidung zwischen Migranten und Flüchtenden, Staatsbürgerrechten und Menschenrechten wissen – und unterwirft seinen Verstand einem diffusen Kleinkindhumanismus.

Nach der Ermordung von Walter Lübcke twittert er: „Das letzte Mal, dass politisch (motivierte) Morde in Deutschland in großen Stil passierten, kamen sie von scharf links mit der RAF.“ Eigentlich möchte Kaeser nur sagen, dass „alle (politischen) Ränder am Abgrund liegen“. Aber natürlich machen sich viele Netz-Beckmesser gleich über ihn her und werfen ihm vor, er unterschlage die NSU-Morde.

Die Doppelmoral der twitternden Spitzenkräfte

Anders liegen die Dinge bei den beiden anderen Tweets. Im Fall Weidel bringt der Siemens-Chef erkennbar seine Besorgnis über die Verrohung der Sprache in einer Parlamentspartei, über die offene Fremdenfeindlichkeit in der AfD zum Ausdruck – über das, was viele Menschen in Deutschland neuerdings (wieder) für sagbar halten, ohne sich dafür zu schämen. Dazu hat er als gesellschaftlicher Akteur jedes Recht. Und dazu darf er sich als Citoyen und Staatsbürger, aus der Sorge um den Erhalt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, sogar verpflichtet fühlen. Joe Kaeser ist als Siemens-Chef ein gesellschaftlicher Akteur (so wie auch „Siemens“ als rechtliche Person ein gesellschaftlicher Akteur ist) – und es wäre völlig absurd, wollte man ausgerechnet Akteuren der Wirtschaft empfehlen, sich ihrer Meinung über eine Gesellschaft zu enthalten, die sie, die Wirtschaft und ihre Akteure, in sehr weiten Teilen prägen. Das Gegenteil ist der Fall.

Nur im Bereich ihrer eigenen Sphäre, der Wirtschaft, dürfen Manager gesellschaftlich blind agieren, sich auf ökonomische Funktionslogiken und Systemzwänge berufen. Als gesellschaftliche Akteure hingegen sind sie, mit Karl Polanyi gesprochen, „eingebettet“ in die Gesellschaft: Sie tragen Verantwortung, sind rechenschaftspflichtig – so wie die 27 „Dreiteiler“ am 20. Februar 1933 im Reichspräsidentenpalais Verantwortung getragen haben, die Eric Vuillard uns in seinem kleinen Band „Die Tagesordnung“ so lebhaft vor Augen stellt: die Gustav Krupps, Hugo Stinnes’, Günther Quandts oder Fritz von Opels, die damals einen Wahlfonds für die NSDAP beschlossen.

Zuletzt Kaesers Tweet zu Donald Trump. Er ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Gewiss: Der Präsident der Vereinigten Staaten ist ein übler Hetzer, der rücksichtslos Raubbau an der demokratischen Kultur betreibt. Aber er hat wohl noch keine Journalisten ermorden und Schwule verfolgen lassen, kein Nachbarland überfallen und auch keine Angehörigen von Minderheiten in Umerziehungslager gesperrt. Das unterscheidet Trump vom saudischen Königshaus, von den Mullahs in Iran, vom russischen Präsidenten Putin und von Chinas Chef-Kommunist Xi.

Es fällt daher leicht, Siemens-Chef Joe Kaeser einer geradezu tolldreisten Doppelmoral zu zeihen. Er hat den Einmarsch Russlands in die Krim heruntergespielt („kurzfristige Turbulenzen“), setzt auf eine „langfristige Wertepartnerschaft“ mit Russland. Er war der Letzte, der sich von der Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi von Geschäften mit den Saudis abhalten lassen wollte. Er ist als Siemens-Chef gleichsam von Berufs wegen gern in Staatsgeschäfte verwickelt (gewesen), auch mit Iran und China. Hinzu kommt, dass Joe Kaesers Trump-Tweet doppelt peinlich ist – weil er dem US-Präsidenten beim Weltwirtschaftsforum in Davos 2018 noch übertrieben höflich gehuldigt hat. Und weil Applaus im Twitter-Universum nicht billiger, nicht gratismutiger zu haben ist als mit einer Trump-Beschimpfung.

Doch der Trump-Tweet hat auch eine Kehrseite: Kaeser riskiert einen Bann aus dem Weißen Haus – und dass Siemens Schaden nimmt.

Mut also statt Gratismut? Vor allem wohl Übermut. Denn als gesellschaftlicher Akteur gerät Joe Kaeser nicht nur in Konflikt mit den binnenökonomischen Interessen der Firmeneigner und Mitarbeiter (wobei jene die Macht besitzen, sich Kaesers zu entledigen, während diese den Folgen seiner veröffentlichten Privatmoral ausgeliefert sind). Sondern er markiert mit seiner wertgebundenen Kritik an Trump auch das defizitäre Wertesystem des Unternehmens, an dessen Spitze er steht – des gesellschaftlichen Akteurs „Siemens“. Natürlich, der Konzern weiß sich, wie fast alle Konzerne, einer Geschäfts-„Philosophie“ verpflichtet („nachhaltige Lösungen“, „global denken“, „Teamgeist“) – aber er ist auch, wie alle Konzerne, „fest davon überzeugt, dass Unternehmen der Gesellschaft gegenüber eine Verpflichtung haben“. Welche das wäre, etwa im Fall von China, Russland, Saudi-Arabien oder Iran, das allerdings wüsste man nach Kaesers Tweets doch gern etwas genauer.

Insofern stößt Kaeser, freiwillig oder unfreiwillig, eine wichtige Entwicklung an. Er kennzeichnet mit seinen Tweets die Kluft zwischen der Hypermoral in einem Konzern wie Siemens (Compliance), seiner interessengeleiteten Nicht-Moral auf globalen Märkten – und der Doppelmoral seiner twitternden Spitzenkräfte.

Und ganz im Ernst: Das ist gar nicht mal schlecht für den Anfang einer mutmaßlich stark von Systemkonkurrenz und nationalen Egoismen bestimmten Wirtschaftswelt im 21. Jahrhundert. Für die moralische Neujustierung einer in die Gesellschaft eingebetteten Wirtschaft auf der Basis europäischer Werte.

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