Tauchsieder

Kann Singapur es besser als wir?

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Systemstabilität sichert Loyalität

Es sind vor allem zwei Entwicklungen, die dem „System Singapur“ derzeit in die Hände spielen – sowohl in reifen Volkswirtschaften als auch in sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländern.

Erstens: Der Datenkapitalismus löst im Namen der Bequemlichkeit die Grenzen zwischen Selbstbestimmung und Fremdsteuerung auf – seine Algorithmen und Apps bieten sich uns als freundliche Lotsen durch eine Informations- und Konsumwelt an, durch deren Pluralität wir uns paradoxerweise zunehmend konformistisch bewegen: Man huldigt dem Besonderen, Einzigartigen, Ausgezeichneten und Unvergleichlichen (Seht her, das ist mein großartiges Facebook-Ich!) – aber man prämiert und bewertet sich in allgemeinen (Infra-)Strukturen, Netzwerken und Praktiken (Like!). Das spielt fraglos politischen Systemen in die Hände, denen es vor allem darum geht, Störungen zu vermeiden, möglichst friktionslos durchzuregieren. Denn der Smartphone-Bürger der Zukunft wird nicht mehr beherrscht, sondern berechnet, in seiner Berechenbarkeit zunehmend leicht regierbar, und es scheint, dass planmäßig agierende Staaten wie Singapur auch deshalb besonders von der Digitalisierung profitieren, weil ihre traditionell starken (Aufsichts-)Behörden Daten viel ungenierter verarbeiten als die Institutionen demokratischer Systeme.

Zweitens wird es in den bevölkerungsreichsten Ländern und Regionen der Welt in den nächsten Jahrzehnten, wie in Lee Kuan Yews Singapur vor gut 50 Jahren, vor allem um elementare Verbesserungen des Lebensstandards gehen, um die entschlossene, durchdachte, interessengeleitete Entfesselung wirtschaftlicher Potenziale – jedenfalls nicht um die Befriedigung postmaterieller Bedürfnisse und identitärer Befindlichkeiten. Und das spielt fraglos einem politischen Paternalismus in die Hände, in dem Regierende versprechen, „zum Besten der gesamten Bevölkerung“ zu handeln und kollektive Interessen adressieren. Solange sie das erfolgreich und unideologisch tun, solange sie den Wohlstand ihrer Bürger mehren und damit auch deren basale Freiheit – gedacht als Abwesenheit von Hunger, Willkür, Not – solange sie religiöse und kulturelle Praktiken schützen, den Wucher, die Kriminalität und die Korruption bekämpfen, solange sie soziale und ethnische Konflikte entschärfen, steuerfinanzierte Programme für Bildung, Gesundheit, Wohnungsbau und Altersversorgung aufsetzen, Ordnung herstellen und für (Rechts-)Sicherheit sorgen, kurz: solange die Regierenden mit sozialer Systemstabilität auch Systemloyalität herstellen – solange dürften die Bürger dieser Länder, ganz wie in Singapur, auch ihre Technokraten in Ruhe regieren lassen.

Natürlich können Länder wie Deutschland sich kein Beispiel nehmen an Singapur, nichts lernen, kopieren, übernehmen – zu unvergleichlich sind die Prägungen der (Ideen-)Geschichte, die politischen Traditionen, die gesellschaftlichen Ideale und Voraussetzungen, auf denen die Erfolge der beiden Länder beruhen. Oder schärfer formuliert: Jeder liberal denkende Mensch muss das „Modell Singapur“ rundheraus ablehnen. Schulen, Medien und Kultur werden staatlich kontrolliert, die Bevölkerung wird engmaschig überwacht. Freitags, im Morgengrauen, hängen sie hier immer noch Drogendealer. Homosexualität wird nach wie vor kriminalisiert. Der Meinungsfreiheit sind enge Grenzen gesetzt. Und der narzisstische Stolz, in den sich die autokratischen Eliten hier einkleiden, ihr Wille zur Auto-Mythologisierung als tugendhafte, weise Staatsmänner von überragendem Format ist fast schon so komisch wie der Anblick der konsumsedierten Massen, die sich an Wochenenden durch immer neue Shopping-Malls schieben und dabei den Eindruck erwecken, sich von allerlei albernen Wasserspielen und Licht-Shows allzu gern ruhig stellen zu lassen. Auch würde in Deutschland wohl niemand akzeptieren, dass der Staat zum Beispiel darüber bestimmt, wieviel Wohnquadratmeter einer jungen Durchschnittsfamilie in standardisierten Hochhäusern zur Verfügung stehen.

Staatsgründer Lee Kuan Yew hätten diese Einwände nicht angefochten. Er hat das geographisch günstig gelegene Singapur seit seiner Unabhängigkeit 1965 zum Umschlagplatz des Welthandels umgebaut und als sicheren Hafen für Auslandsinvestitionen positioniert – hat amerikanische und europäische Konzerne, die damals begannen, ihre besonders arbeitsintensive und umweltbelastende Produktion auszulagern, mit niedrigen Arbeitskosten und einem attraktiven Steuerregime, mit Rechtssicherheit und sozialer Stabilität (sprich: Kontrolle der Gewerkschaften und strafende Disziplinierung der Bevölkerung), mit einer liberalen Einwanderungspolitik (besonders für Hochqualifizierte und Geringqualifizierte) und hohen Subventionen nach Singapur gelockt – und sein Land buchstäblich angereichert mit Auslandskapital. Und er hat dieses Kapital gut angelegt: in zwei Staatsfonds und Sozialprogrammen, in politische Expertise und den Ausbau der Infrastruktur, in Landgewinnungsprojekte und touristische Attraktionen, in die besten Universitäten des Kontinents und in eine ikonografische Architektur, die dem Singapur von Lee Kuan Yews Nachfolger (sein Sohn Lee Hsien Loong) heute dabei hilft, sich als globale „Smart City“ und „Green City“ zu vermarkten.

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