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Quelle: dpa

Weniger Demokratie wagen?

Das „Modell Singapur“ - Heilsvision oder Hölle? Vor allem ein Zerrbild und ein Missverständnis. Anmerkungen zur Krise der liberalen Demokratie und zur Renaissance „asiatischer Werte“.

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Philip Hammond hat das „Modell Singapur“ vor genau drei Jahren in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ nach Europa importiert. Das Gespräch mit dem britischen Schatzkanzler kreiste um die Frage, wie Großbritannien nach dem geplanten Austritt aus der Europäischen Union seine Wirtschaftspolitik gestalten und seine Wettbewerbsfähigkeit erhalten wolle. Hammond hoffte damals, im „europäischen Mainstream des wirtschaftlichen und sozialen Denkens“ zu verbleiben, beharrte auf einem präferierten Zugang der Vereinigten Königreichs zum Europäischen Binnenmarkt - und drohte: „Wenn man uns zwingt, etwas anderes zu sein, werden wir etwas anderes werden müssen.“ Etwas anderes - damit meinte Hammond: ein Standort mit niedrigen Steuerraten, betont wirtschaftsfreundlich, einladend für Unternehmen, anziehend für Reiche. 

Wenig später war das Schlagwort von „Singapore-on-Thames“ geboren. Der konservative Parlamentgsabgeordnete Owen Paterson empfahl in einem Beitrag für den „Daily Telegraph“ im November 2017: „Wenn wir Erfolg haben wollen, sollte unser Post-Brexit-Modell genau Singapur sein, ein winziges Land ohne natürliche Ressourcen, aber mit einer boomenden Wirtschaft und einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 85 Jahren: niedrige Steuern, schlanker Staat, wenig Regulierung.“

Seither geistert der kleine Stadtstaat an der Südostspitze des asiatischen Kontinents als Top-Referenz radikaler Marktfreunde durch die Brexit-Debatte: als Wirtschaftswunderland des entfesselten Wettbewerbs und Primärdestination von Investitionen, als Steuerparadies mit Bankgeheimnis und globales Muster-Handelsdrehkreuz ohne Zölle und Hemmnisse. Auch Premier Boris Johnson soll mit der Idee eines wettbewerbsstarken Großbritannien liebäugeln - und bereits als Außenminister gegenüber EU-Diplomaten davon gesprochen haben, sein Land als a „buccaneering“ Britain, als eine Art „Freibeuter“-Nation positionieren zu wollen. Bundeskanzlerin Angela Merkel immerhin scheint es ihm zuzutrauen. Sie warnte das Parlament bereits im September 2019 vor einem „ökonomischen Konkurrenten vor der Haustür“.

Wir halten fest: Für manche in Großbritannien ist das „Modell Singapur“ eine Art Heilsvision - für die meisten anderen in Europa die Hölle: Sie fürchten einen Aufguss der Margaret-Thatcher-Ära, einen Neo-Neo-Liberalismus auf Kosten des Staates und seiner Institutionen, eine dramatische Verschärfung der Ungleichheit - ein Dumping-Großbritannien, das den Rest des Kontinents mit niedrigen Steuern, Löhnen, Sozial- und Umweltstandards herunter konkurrieren will. Was beiden Seiten dabei entgeht: Mit dem „Modell Singapur“ hat weder das eine noch das andere zu tun; vielmehr verstellt das Zerrbild des Stadtstaates, das Linke und Rechte in Europa noch immer verbreiten, den Blick auf das, was Singapur vor allem auszeichnet - und auf das, worauf die liberalen Demokratien des Westens dringend eine Antwort finden müssen, wollen sie ihre Legitimationskrise nicht verschärfen:

die fast vollständige Abwesenheit von politischen Ideen und ökonomischen Idealen („Liberalismus“, „Sozialdemokratie“) zugunsten gut geplanter, pragmatischer und wissenschaftsbasierter Lösungen im Sinne des Landes, der Vorrang des Nützlichen für die Mehrheit der Bevölkerung vor der Protektion des Wünschbaren für Minderheiten - und die weitgehende Ausschaltung der Politik-Politik zugunsten dessen, wofür früher auch einmal im Westen das Wort von der „Regierungskunst“ zur Verfügung stand.

Tatsächlich haben viele Staaten Asiens, allen voran Singapur, Lehren aus dem „angloamerikanischen Versagen“ in den  vergangenen drei Dezennien gezogen, argumentieren Kishore Mahbubani und Parag Khanna, die beiden bekanntesten Politologen des Stadtstaates in ihren jüngsten Büchern:

Viele Länder der Region haben sich seit der Asienkrise von den stereotypen Diktaten des „Washington Consensus“ emanzipiert und gehen gestärkt aus den Deregulierungs- und Entindustrialisierungsoffensiven in den USA und in Teilen Europas hervor; sie kämpfen nicht mit einem übersteuerten Finanzsektor und zentralbanklich rettungslos manipulierten Marktpreisen, haben ihre Abhängigkeit als Produktionsstandort für den Westen durch eine Intensivierung der regionalen Handelsbeziehungen reduziert und zeichnen sich durch starke Regierungen aus, die nicht mehr (nur) wie ehedem am Wohlergehen der eigenen Familien und Sippen interessiert sind, sondern sich der Mehrheit ihrer Bevölkerungen gegenüber verpflichtet fühlen - etwa in China, Indien und Indonesien.

Vor allem aber genießen die Regierenden das Vertrauen der (meisten) Menschen in den Bevölkerungen ihrer Länder, anders als es mittlerweile in zahlreichen Demokratien des Westens der Fall ist. Tatsächlich waren einer Gallup-Umfrage von 2013 zufolge zwei Drittel der Amerikaner unzufrieden mit ihrem Regierungssystem - während die meisten jungen Menschen in China, Indien und Indonesien erwarteten, die Welt entwickle sich, vor allem dank des technologischen Fortschritts, zu einem besseren Ort. „Die Asiaten haben die Tugenden der rationalen Staatsführung vom Westen gelernt“, schreibt Mahbubani in einem Essay mit dem sprechenden Titel Has the West Lost It? und konstatiert ein Paradox: Dennoch verlieren viele westliche Bevölkerungen ihr Vertrauen in die Regierungsführung, während das Vertrauen in Asien zunimmt.“ Der Grund liegt für Mahbubani und Khanna auf der Hand: Asien hat das „Best-Practice-Ideal“ des Westens ohne seinen ideologischen Überbau übernommen, baut auf ordem e progresso, auf Ordnung und Fortschritt, die Ausbalancierung „von individueller Freiheit und kollektiver Pflicht“ (Khanna) - auf ein szientistisch unterlegtes Sozialingenieurswesen, das sich durch Planung und Exzellenz auszeichnet - und zunehmend auch durch Feedbackschleifen und Mechanismen der Rückkopplung, die politische Mitsprache nicht alle vier, fünf Jahre im Wege von Wahlen als Fest der Demokratie feiert, sondern in Form einer internalisierten Rechenschaftspflicht der Regierenden permanent stellt -  Regierende, die jederzeit auf sich regende Unmutsäußerungen (etwa in den Sozialen Medien) zu reagieren haben, wollen sie nicht ihre Legitimität verlieren - und von denen Mahbubani behaptet: „Solange sie täglich beweisen müssen, dass sie das Leben ihrer Menschen verbessern, werden sich die asiatischen Gesellschaften auch weiter verbessern.“  

Gewiss, es ist leicht, beiden Denkern vorzuhalten, bei der Totalisierung des Mehrheitswillens handle es sich um das genaue Gegenteil einer Demokratie - und jede Kollektivierung der Freiheit- und Fortschrittsidee stehe im Widerspruch zur „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“. Auch die These von der Ideologiefreiheit der Regierenden ist mit Blick auf den Kultur- und Religionschauvinismus in China und Indien, auf die Unterdrückung der Tibeter und Uiguren oder die Kashmir-Politik, auf den Kontrollwahn der Kader in Peking und die Verfolgung von Oppositionellen dort, nicht stimmig. Mahbubani und Khannas Blick auf Asien ist meist warm, freundlich und (oft zu) mild - ihr Blick auf Europa und vor allem die USA meist kühl, distanziert und (nur sehr selten) auch leicht hämisch.

Und doch: Wer wollte den beiden widersprechen, wenn sie konstatieren, dass die Politik der Vereinigten Staaten „an einem Übermaß an Repräsentation und einem Mangel an tatsächlicher Regierungsgewalt“ krankt, dass im Gerangel zwischen Weißem Haus und Repräsentantenkammer die „politischen Prozesse den Sieg über die politischen Problemlösungen“ davontragen? Dass die US-Demokratie nur einem kleinen Promille ihrer Bürger die minimale Chance einräumt, der Nation als Präsident zu dienen?

Dass sich Europa seit zehn Jahren erlaubt, um seine multiplen Krisen zu kreisen, dass der Kontinent den Aufstieg der Rechtspopulisten hinnimmt und keine Idee entwickelt, wie es die Probleme seiner Bevölkerungen in den Griff bekommt? Dass die Demokratie in Großbritannien sich seit mehr als drei Jahren in Parlamentsdebatten ad absurdum führt, nicht zur Einheit des Landes beiträgt, sondern seine Spaltung provoziert? Dass Deutschland unendlich viel politische Energie etwa auf Verteilungs- und Identitätsfragen verwendet, die zur Lösung seiner elementaren Bildungs-, Infrastruktur- und Zukunftsprobleme fehlt?

Fakt ist: Zunehmend viele Menschen auf dem Globus gewinnen den Eindruck, gute Regierungen (in Asien) verbesserten die Lebenschancen ihrer Bevölkerungen, während das den alten Demokratien nicht mehr gelingt. Kenia folgt in seiner „Vision 2030“ dem Beispiel Singapurs, nicht dem der USA; Äthiopien folgt dem „Modell Südkorea“, keinem Vorbild Deutschland - und Khanna ist im vergleichenden Blick auf die Staatsgründer von Singapur und der USA überzeugt: „Die Regierungschefs, Städteplaner und Wirtschaftsstrategen des 21. Jahrhunderts lassen sich allesamt von Lee Kuan Yew inspirieren, nicht von Thomas Jefferson.“ 

Warum ausgerechnet Lee Kuan Yew? Warum ausgerechnet Singapur? Davon demnächst mehr an dieser Stelle. 

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