Terror in London „Rennt und bringt Euch in Sicherheit!“

Wenige Tage vor der Parlamentswahl schlagen Terroristen im Londoner Kneipenviertel zu. Die Menschen vor Ort können es nicht fassen. Handelsblatt-Reporterin Katharina Slodczyk hat mit den Zeugen gesprochen.

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Die Polizei bringt nach einer Terrorattacke Menschen in Sicherheit. Quelle: dpa

London Sie hatten gerade eine Kneipe verlassen und überlegten, in welche Richtung sie zum nächsten Geldautomaten gehen müssten: „Da hörten wir einige Meter entfernt Polizisten brüllen: Rennt, bringt Euch in Sicherheit“, erzählt Morgan, eine Studentin aus dem Süden von London. Ihre Freundin Holly ergänzt: „Als wir um die Ecke bogen, sahen wir, wie schon Dutzende von Menschen panikartig und mit erhobenen Händen wegliefen. Wir haben uns angeschlossen.“ Auch am Morgen danach können sie die Situation noch nicht so richtig fassen: „Es war wie in einem Film, wie in einem schlechten Film“, sagt Morgan leise.

Die beiden Frauen waren unter den Hunderten von Kneipen- und Restaurantbesuchern südlich der London Bridge, als der zweite Terroranschlag innerhalb von noch nicht mal zwei Wochen Großbritannien erschütterte. Erst raste ein weißer Transporter auf der Brücke in Passanten und steuerte dann auf den Borough Market zu – eine Markthalle mit vielen Restaurants, Bars und Pubs drumherum. Dort verließen die drei Attentäter das Fahrzeug und gingen nach Berichten von Augenzeugen mit Messern auf Menschen los. Bewaffnete Polizisten erschossen die Männer acht Minuten, nachdem die ersten Alarmmeldungen über die Angriffe bei der Polizei eingegangen waren.
Londons Bürgermeister Sadiq Khan sprach am Sonntagmorgen von einem „feigen Terroranschlag“. Behörden gaben die Zahl der Todesopfer mit sieben an. Zudem seien knapp 50 Menschen verletzt worden und würden in Krankenhäusern behandelt. Die großen Parteien, die konservativen Tories und die Labour-Partei, kündigten an, ihren Wahlkampf vorerst zu unterbrechen. Am Donnerstag wählen die Briten eigentlich ihr neues Parlament. Khan sprach sich dagegen aus, den Urnengang zu verschieben: Die Terroristen „wollen uns von einer Abstimmung abhalten, doch das dürfen wir nicht zulassen“, so der Bürgermeister. Auch Brexit-Minister David Davis sagte: Es wäre falsch, die Wahlen zu verschieben. Ohnehin sei es unklar, ob das überhaupt rechtlich möglich sei.
Der Alarm ging am Samstagabend kurz nach 22 Uhr bei der Polizei ein. Nach Augenzeugenberichten war ein Transporter mit deutlich erhöhter Geschwindigkeit über die London Bridge Richtung Süden gerast. „Er kam von der Straße ab und traf zwei Menschen vor mir und drei hinter mir“, so beschrieb die BBC-Reporterin Holly Jones die Situation.

Als die Täter weniger Minuten später aus dem Wagen ausgestiegen waren und Menschen mit Messern attackierten, sollen sie „Das ist für Allah“ geschrien haben. „Ich sah einen Mann, der ein verhältnismäßig großes Messer in der Hand hatte“, berichtete ein Augenzeuge dem britischen Sender BBC, „Er hat auf einen Mann eingestochen, wahrscheinlich dreimal, er tat das sehr ruhig.“ Ein anderer Mann habe dem Opfer zu helfen versucht, aber wohl vergeblich.
Gerard, ein anderer Augenzeuge, hat zwei der Angreifer gesehen, wie sie in einem Pub Menschen mit einem Messer attackierten: „Ich habe etwas nach ihnen geworfen, wahrscheinlich einen Stuhl“, erzählt er britischen Medien später, „ich habe sie am Kopf und am Rücken getroffen, dann rannten sie auf mich zu und versuchten, mich niederzustechen. Ich bin weggerannt.“


Dritter Anschlag in Großbritannien binnen eines Jahres

Holly und Morgan, die beiden Studentinnen, haben die ganze Nacht über in verschiedenen Bars und Kneipen südlich des Tatorts die Geschehnisse verfolgt. „An Schlaf war nicht zu denken.“ Am nächsten Morgen sitzen sie mit einem Kaffeebecher in der Hand an einer U-Bahnstation südlich des Borough Market. Ein paar Hundert Meter von ihnen entfernt flattern weiß-blaue Absperrbänder im Wind, mit denen die Polizei den Tatort abgeriegelt hat. Fernsehcrews haben sich davor aufgebaut und interviewen Augenzeugen. Auf einer Verkehrsinsel haben Passenten gerade einen Blumenstrauß abgelegt.
Ein Touristenpaar aus Australien erkundigt sich bei der Polizei, wann die Absperrungen wieder abgehoben würden. „Wir wollten eigentlich in einem Hostel dort hinten übernachten“, sagt der Australier und zeigt hinter die Absperrung, „wir sind aber evakuiert worden.“ Sie hätten in der Eile nicht alle ihre Sachen mitnehmen können. „Es brach Panik aus und wir wurden in einem anderen Hostel in Sicherheit gebracht.“ Als sich herausgestellt habe, dass es sich um einen Terroranschlag gehandelt habe, „waren wir noch entsetzter als zuvor, unglaublich, wir wollten hier eigentlich ein paar ruhige Tage verbringen.“

Seine Freundin steht neben ihm und checkt den Kurznachrichtendienst Twitter auf ihrem Mobiltelefon. In dem Moment bestätigt die Polizei, dass die Zahl der Todesopfer von sechs auf sieben gestiegen sei. „Hoffentlich werden es nicht noch mehr“, murmelt die Frau, „wenn man sich diese Horrorbilder von letzter Nacht anschaut von den blutenden Menschen und denen, die reglos auf der Straße lagen, sieht es nach mehr aus.“
Der Vorfall auf der London Bridge weckt Erinnerungen an den 22. März dieses Jahres. Ein Auto war damals auf einer Brücke im Londoner Regierungsviertel in Passanten gerast. Der Fahrer hat danach versucht, sich Zugang zum Parlamentsgebäude zu verschaffen und ging dabei mit einem Messer auf einen Polizisten los. Der Terroranschlag dauerte gerade mal knapp eineinhalb Minuten. Sechs Menschen sind dabei gestorben und etwa 50 verletzt worden.
Vor noch nicht mal zwei Wochen hat ein Selbstmordattentäter am Ende eines Konzerts in Manchester einen selbst gebauten Sprengsatz gezündet. 22 Konzertbesucher sind dabei gestorben.
Samstagnacht war ursprünglich von insgesamt drei Zwischenfällen die Rede, bei denen man terroristischen Hintergrund vermutet hatte. Ein Vorfall in Vauxhall, westlich von London Bridge und Borough Market, stünde aber nicht im Zusammenhang mit dem Terroranschlag, stellte die Polizei später klar.

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