Terror in Nigeria Boko Haram lässt Mädchen morden

Boko Haram zwingt Kinder und junge Frauen in Nigeria zu Selbstmordattentaten. Dieses Schicksal hat womöglich auch einige der Schulmädchen ereilt, die vor zwei Jahren von der Terrorgruppe entführt wurden.

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Boko Haram hat Häuser eines Dorfs niedergebrannt. Junge Mädchen fliehen mit ihren Habseligkeiten vor der Terrorgruppe. Quelle: AFP

Abuja Zwei Mädchen betreten ein Flüchtlingslager in der Stadt Dikwa im Norden Nigerias. Sie geben vor, auf der Flucht vor der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram zu sein. Mit Hunderten anderen stellen sie sich bei der Essensausgabe an. Niemand merkt, dass sie unter ihren traditionellen Gewändern Sprengstoffgürtel tragen. Die Selbstmordattentäterinnen reißen am Mittwoch 65 Menschen mit in den Tod.

Im Nachbarstaat Yobe zündet eine Zehnjährige ihren Sprengstoffgürtel auf einem belebten Markt in der Stadt Damaturu. Mindestens 19 Menschen sterben, fast 50 andere werden verletzt. Weiter westlich, in der Stadt Kano, sprengen sich zwei junge Attentäterinnen inmitten einer Menschenmasse in die Luft. Auch hier fällt die Bilanz mit 15 Toten und etwa 100 Verletzten verheerend aus.

Das sind nur einige Beispiele aus den vergangenen Monaten. Und all diese Anschläge sind sowohl Teil einer menschenverachtenden Strategie als auch einer Besorgnis erregenden Entwicklung: Immer mehr Mädchen werden von den sunnitischen Fundamentalisten als Selbstmordattentäterinnen eingesetzt. Sie werden - meistens gegen ihren Willen - mit Sprengstoffgürteln ausgestattet und dazu gezwungen, diese an belebten Orten wie Märkten, Busbahnhöfen oder Moscheen zu zünden.

„Kinder sind nicht die Anstifter dieser Anschläge. Sie werden von Erwachsenen vorsätzlich und auf grausamste Weise benutzt“, sagt Jean Gough, die Leiterin des UN-Kinderhilfswerks Unicef in Nigeria. Die jungen Attentäter seien an erster Stelle Opfer, nicht Täter.

Mädchen werden von Boko Haram gezielt eingesetzt, weil sie weniger verdächtig wirken und unter ihrem langen, muslimischen Gewand - der Burka - Sprengstoffgürtel verstecken können. Männliche Sicherheitskräfte dürfen Frauen in der stark religiös geprägten Region keinen Körperkontrollen unterziehen. Auch lösen junge, weibliche Täterinnen größere Empörung aus und bekommen mehr Aufmerksamkeit, vor allem in internationalen Medien. Darauf würden Terrorgruppen wie Boko Haram abzielen, sagen Experten.

Nigerias Regierung scheint machtlos. Nachdem der ehemalige Präsident Goodluck Jonathan die Terroranschläge während seiner Amtszeit (2010-2015) nicht in den Griff bekommen hatte, gewann sein Herausforderer Muhammadu Buhari die Wahl im vergangenen April unter anderem mit dem Versprechen, Boko Haram zu stoppen. Zwar konnte das Militär zahlreiche besetzte Dörfer und Gebiete zurückerobern, doch der Terror geht weiter.


2000 Frauen in der Gewalt von Boko Haram

Die Gruppe, die einen „Gottesstaat“ mit strengster Auslegung des islamischen Rechts, der Scharia, errichten will, zog sich in ihre Lager in schwer zugänglichen Wäldern und Höhlen zurück. Von dort aus verübt sie weiter blutige Anschläge in Nigeria sowie angrenzenden Gebieten der Nachbarländer Kamerun, Tschad und Niger.

Im März leistete Boko Haram der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) einen Treuschwur und firmiert seither als deren westafrikanischer Ableger. Seit 2009 sollen den sunnitischen Fundamentalisten dort mehr als 14 000 Menschen zum Opfer gefallen sein. Rund 2,5 Millionen Menschen sind vor ihrer Gewalt geflohen.

Allein im Nordosten Nigerias sind nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks Unicef knapp 750 000 Kinder durch den Terror vertrieben worden. Tausende Mädchen und Jungen seien von ihren Eltern getrennt worden. Ohne den Schutz einer Familie würden die Kinder leicht zu Opfern von Ausbeutung und Indoktrination, erläutert Unicef. Amnesty International zufolge sind mindestens 2000 Frauen und Mädchen in die Gefangenschaft der Islamisten geraten.

Wie aus Interviews der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) mit geflohenen Mädchen und Frauen hervorgeht, bedroht Boko Haram Entführungsopfer systematisch mit sexueller Gewalt, Körperverletzung oder sogar Mord, wenn sie sich den Terroristen widersetzen.

Eine 13-jährige Selbstmordattentäterin, die es nicht über sich brachte, ihren Sprengstoffgürtel in der Stadt Kano zu zünden und daraufhin festgenommen wurde, berichtete im örtlichen Fernsehen, sie sei von ihrem Vater, einem Mitglied der Terrorgruppe, zu der Tat gezwungen worden. Sie habe große Angst gehabt, nachdem ein Mädchen, das Widerstand geleistet hatte, vor ihren Augen gesteinigt worden sei.

„Es ist völlig klar, dass die Mädchen von denen, die an der Macht sind, gezwungen werden“, erklärt HRW-Forscherin Mausi Segun in der nigerianischen Hauptstadt Abuja. Sie beobachte diesen Trend bereits seit Mitte 2014.

Einige Experten gehen davon aus, dass sich unter den Selbstmordattentäterinnen einige jener 276 Schulmädchen befinden, die im April 2014 von Boko Haram aus der Stadt Chibok entführt wurden. „Es ist sehr wahrscheinlich“, sagt Bukola Shonibare von der Kampagne „Bring Back Our Girls“, die fast zwei Jahre nach der Tat noch immer für die Rückkehr der Mädchen kämpft. „Wir haben keine Beweise, doch Informationen von einigen geflüchteten Mädchen und Dorfbewohnern in der Nähe von Boko-Haram-Verstecken deuten darauf hin.“

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