
Kaum zehn Kilometer sind es vom Strand nördlich der Ferienmetropole Sousse zum Industriepark Sidi Abdelhamid mit seinen zwei, drei Dutzend Zweckbauten zwischen breiten Zufahrtsstraßen. In einem der größeren Fabrikgebäude entstehen Plastikbauteile für Autos und Elektrogeräte. Chekib Debbabi, Chef von annähernd 400 Beschäftigten von Tunisie Plastique Système (TPS), teilt das Entsetzen fast aller Tunesier über den islamistischen Mordanschlag vom vorvergangenen Freitag.
Aber von neuen Gefahren für sein Unternehmen will er nichts wissen: „Wir sind gut geschützt, unsere Mitarbeiter sind loyal und gesetzestreu.“ In den Industriepark verirren sich – so Gott will! – Terroristen so wenig wie Touristen.





Eigentlich ist die tunesische Industrie selber der beste Schutz, den das nordafrikanische Land gegen den Terror hat: Wer Arbeit hat und ordentlich verdient, hört nicht auf die Lockrufe der islamistischen Hetzer.
Auf exportorientierte Industriebetriebe der Metall- und Chemieindustrie wie hier in Sidi Abdelhamid konzentrieren sich Tunesiens Hoffnungen auf einen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Branche ist im ersten Quartal 2015 um 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr gewachsen. Insgesamt erwartet die tunesische Regierung für 2015 ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) von 2,6 Prozent – besser als in den Vorjahren, und dennoch zu wenig für die Probleme eines Landes mit 15 Prozent Arbeitslosen und einem BIP pro Kopf von etwa 5000 Dollar.

Dagegen hat sich die Lebensader Tourismus vom Einbruch im Revolutionsjahr 2011 nie erholt. Mit 3,2 Millionen Übernachtungen betrug der Rückgang gegenüber dem letzten politisch ruhigen Jahr 2010 im ersten Quartal dieses Jahres 28 Prozent. In jüngster Zeit hatte die im vergangenen Winter demokratisch gewählte Regierung an Plänen zur Reform der Branche gearbeitet: weniger Billigtourismus am Strand, mehr Bildungs- und Erlebnistourismus im Hinterland mit seinen noch wenig besuchten kulturellen Schätzen.
Das ist unrealistisch geworden. Ausgerechnet in Kairouan, der mittelalterlichen Moscheenstadt, hat der Mörder von Sousse gewohnt. In seinem kurzen, unseligen Lebenslauf spiegeln sich fast alle Übel Tunesiens: Er kam aus dem bettelarmen Hinterland. Er bewegte sich am Rand der islamistischen Szene, wo politische Hetzer außerhalb des in Tunesien ziemlich moderaten religiösen Mainstreams agitieren. Er studierte Ingenieurwesen an einer kleinen, wenig angesehenen Hochschule – mit entsprechend schlechten Berufsaussichten.
Die Führer des IS
az-Zarqawi wurde 1966 geboren und 2006 getötet. Auf seinem Kopf hatten die USA ein Kopfgeld von 25 Millionen US-Dollar ausgesetzt – das entspricht dem Kopfgeld, das auf Saddam Hussein ausgesetzt war. Er galt als Experte für chemische und biologische Kampfstoffe.
Während des Irak-Kriegs gründete er al-Qaida im Irak – der Organisation aus der heute der Islamische Staat (IS) hervorgegangen ist. Er ist für mehrere Terroranschläge und die Enthauptung des Amerikaners Nicholas Berg verantwortlich.
Am 7. Juni 2006 töteten ihn US-Spezialkräfte nördlich von Bagdad. Nachdem zu einem Gefecht zwischen US-Militärs und Anhängern az-Zarqawis kam, forderten die US-Soldaten einen gezielten Luftschlag auf sein Lager an. Infolge dieses Luftschlags soll az-Zarqawi gestorben sein.
Die Person hinter dem Pseudonym Abu Umar al-Baghdadi ist immer schattenhaft geblieben. Nach irakischen Angaben war er ein ehemaliger irakischer Armeeoffizier. 1985 soll er in dem Widerstand gegen Saddam Hussein beigetreten sein.
1987 floh er nach Afghanistan, um erst 1991 zurück in den Irak zu kommen. Seine Festnahme wie sein Tod wurden mehrfach gemeldet. Beobachter äußerten immer wieder die Vermutung, hinter dem Kampfnamen existiere keine reale Person – oder er wäre nacheinander von unterschiedlichen Kämpfern verkörpert worden.
Seit 2010 sind keine Ankündigungen von ihm mehr in die Öffentlichkeit gelangt, weshalb man ihn für tot hält.
Al-Baghdadi wurde 1971 im Irak geboren. Seit 2010 ist er der Anführer des IS. Seitdem er Mitte 2014 in Teilen Syriens und des Iraks das Kalifat ausgerufen hat, nennt er sich Kalif Ibrahim.
In Bagdad soll er ab seinem 19. Lebensjahr zehn Jahre lang in einem privaten Moscheegebäude gelebt und Religion studiert haben. Sein Studium soll er zu Beginn der 2000er Jahre mit einer Promotion in Islamischen Recht beendet haben.
Als die USA 2003 im Irak einmarschierten, gründete al-Baghdadi eine militante Islamistengruppe. 2004 soll er von US-Streitkräften im Irak interniert worden sein.
Seitdem er 2014 das Kalifat auf syrischem und irakischem Boden ausgerufen hat, ist er nach Ansicht seiner Anhänger oberster Führer der Muslime.
Seit Jahren verharrt die Arbeitslosigkeit bei 15 Prozent. Unter den jungen Hochschulabsolventen sind es 31 Prozent. „Jugendarbeitslosigkeit und ungleiche regionale Entwicklung sind Ihre Hauptprobleme“, sagte OECD-Generalsekretär José Ángel Gurria seinen Gastgebern vor ein paar Wochen bei einem Besuch in Tunis. Jetzt komme die Sicherheitslage gleichrangig dazu.
Demokratische Erfolgsgeschichte
„Fünf-Sterne-Sicherheit“ für die Strände verspricht der 88-jährige Staatspräsident Beji Caid Essebsi nach der Bluttat. Was potenzielle Touristen beruhigen soll, gefährdet eine wesentliche Ursache der einzigen demokratischen Erfolgsgeschichte in der arabischen Welt: In Tunesien hat der Umsturz von 2011 gerade darum eine friedliche Demokratie hervorgebracht, weil die Armee schwach ist und die Polizei nie eine getarnte Bürgerkriegstruppe war – ganz anders als in Ägypten oder im Nachbarland Libyen. Jetzt droht die Mobilmachung gegen weitere Attacken islamistischer Extremisten.
Das Einzige, was Tunesien gegen eine Spirale aus Aufrüstung und Terror schützen würde, wäre ein spürbarer wirtschaftlicher Aufschwung. Doch das Wohl der meisten Unternehmen hängt ganz von der Konjunktur in den Hauptabnehmerländern Frankreich und Italien ab, Deutschland folgt mit Abstand auf Platz drei.
Der Plastikfabrikant TPS etwa ist eine Tochter des französischen Unternehmens Plastivaloire und konkurriert innerhalb des Konzerns mit einem Werk in Rumänien. Ziemlich erfolgreich sogar, weil Direktor Debbabi immer mehr auf Automatisierung der Produktion setzt.
Neue Arbeitsplätze werden so allerdings nicht geschaffen.