Terror, Migration, Brexit Angst um Europa

Renationalisierung, Desintegration: Nach der Eurokrise erschüttern Terror und Fluchtbewegungen den Kitt der EU. Die Handelsblatt-Weltumfrage offenbart Sorgen um Europa. Der IWF-Chefökonom warnt jedoch vor Abschottung.

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Washington Das Herz Europas zittert: Ausgerechnet in Brüssel, der Hauptstadt der Gemeinschaft, zeigte sich am Osterwochenende erneut das ganze Drama der politischen Machtlosigkeit: Während die Behörden noch die Opferzahlen der jüngsten Terroranschläge nach oben korrigieren mussten, während weiter nach den Hintermännern gefahndet und Belgiens Metropole zur Festung ausgebaut wird, gelang es ausgerechnet rechten Hooligans, die Gedenkfeierlichkeiten zu stören.
Und es ist augenscheinlich nicht nur der Terror, der weite Teile der EU-Bevölkerung paralysiert. Das zeigt die Handelsblatt-Weltumfrage, die in den wichtigsten Industrie- und Schwellenländern der Erde jüngst die Stimmung auslotete. Fatales Ergebnis: Nirgendwo ist der Pessimismus größer als in den EU-Nationen Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien.
So sind zum Beispiel 64 Prozent der Franzosen mit ihrer aktuellen wirtschaftlichen Situation unzufrieden, in Italien sind es 65, in Spanien 63 Prozent. Selbst 40 Prozent der befragten Deutschen äußern sich negativ. Noch düsterer blicken Europas Industrienationen auf die Zukunft der nächsten Generation. In allen fünf Staaten war die Mehrheit der Ansicht, dass sich die Situation für die jetzt Geborenen verschlechtern werde. Spitzenreiter unter den Pessimisten auch hier: Frankreich mit 65 Prozent.
Flüchtlingsdebatte, umstrittene Euro-Zukunft, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, ein drohender Brexit und das Erstarken nationalistischer Populisten in vielen Ländern – da wundert es nicht, dass sich auch der neue Chefökonom des Internationalen Währungsfonds Sorgen um Europa macht.


Maurice Obstfeld warnt im Interview mit dem Handelsblatt vor dem europäischen Trend, „wirtschaftliche Integration abzulehnen und nach nationalen Lösungen zu suchen“. Vor allem der Wiederaufbau der Grenzzäune in Europa beunruhigt den IWF und wirke „der Idee der Währungsunion diametral entgegen“, kritisiert er. Die ökonomischen Kosten könnten sich als „äußerst hoch“ erweisen. Europa müsse „einen Weg finden, die Lasten der humanitären Katastrophe durch die Aufnahme und Integration der Flüchtlinge zu teilen“. Der Chefökonom erklärt sich den Rückfall in nationale Denkmuster mit den enttäuschten Versprechen der Globalisierung. Ganz unschuldig sei auch seine eigene Zunft nicht: „Was wir Ökonomen womöglich übersehen haben, ist, wie viele Menschen das Wachstum zurückgelassen hat.“


Auch Brexitdebatte versetzt EU in Krisenmodus

Auch das Bild, das EU-Parlamentspräsident Martin Schulz kürzlich von der Staatengemeinschaft zeichnete, war rabenschwarz. „Die Europäische Union war ganz klar noch nie in einer so dramatischen Lage“, sagte er jüngst. Anlass waren die Verhandlungen der Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel über ein drohendes Ausscheiden Großbritanniens. Ob die Zugeständnisse, die die Gemeinschaft London gemacht hat, ausreichen werden, um das Land in der EU zu halten, ist offen. Die Debatte um einen Brexit und die Abspaltungswünsche vieler Briten hängt auch mit den Problemen der EU bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise und mit der ungeklärten Frage nach dem richtigen Maß der Integration zusammen.

Der „Brexit“ ist noch nicht vom Tisch. Im Juni erst stimmen die Briten ab. Es droht ein Kopf-an-Kopf-Rennen der EU-Befürworter und -Gegner. Und die Gemeinschaft könne nur hoffen, betonen Diplomaten in Brüssel mit Nachdruck, dass das Votum mit einem eindeutigen „Yes“ für einen Verbleib enden werde.
Die EU kommt aus dem Krisenmodus gar nicht mehr heraus. Politik findet nur noch reaktiv auf immer neue Bedrohungsszenarien statt. War nicht schon die Finanzkrise schlimm genug für die EU, zumal die Euro-Gruppe die Griechen nur mit Mühe und Not im gemeinsamen Währungsraum halten konnte? Doch die Hoffnung, noch schlimmer werde es nicht kommen, blieb unerfüllt. Das Weltgeschehen gönnt den Europäern keine Verschnaufpause. Mit der eskalierenden Flüchtlingskrise wurde der Zusammenhalt der Gemeinschaft erneut auf die Probe gestellt.


Streit über Grenzschließungen, eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU und einen verbesserten Schutz der Außengrenzen haben nicht nur die Osteuropäer gegen Brüssel aufgebracht. Nun steht der Schengen-Raum der bisherigen Freizügigkeit zur Disposition – Gift für die Wirtschaft, die vor den Milliardenkonsequenzen geschlossener Schranken warnt.
„Es gibt zu wenig Union, zu wenig Europa“, warnte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker verbittert. Die Gemeinschaft scheint ohne Visionen, wie sie der angespannten Lage entrinnen kann. So wird 2016 für die EU zum Jahr der Bewährung. Entsprechend pessimistisch zeigten sich Europas Bürger auch in der großen Welt-Umfrage des Handelsblatts. Das Gros der befragten Spanier, Franzosen, Briten, Italiener und auch Deutschen glaubt, dass die Zukunft nur Verschlechterungen bringen werde.
Schon stellen manche Regierungschefs einen Zusammenhang zwischen den Flüchtlingsströmen und den Terroranschlägen in Frankreich und Belgien her. Ihr Land könne, sagte etwa Polens Regierungschefin Beata Szydlo, aus Gründen der inneren Sicherheit anders als verabredet keine Flüchtlinge mehr aufnehmen. In Paris waren am 13. November bei einer Serie islamistischer Anschläge 130 Menschen getötet worden. In Brüssel starben in der vergangenen Woche 35 Menschen, Hunderte wurden verletzt. Damit ist der islamistische Terror endgültig im Herzen Europas angekommen – und offenbart ein neues Problem.
Gelingt es den Europäern nicht, die Sicherheit ihrer Bürger zu gewährleisten, schwindet die Legitimation der EU. Überall fahnden Ermittler nun nach Terrorverdächtigen. Die Polizei nahm inzwischen zahlreiche Verdächtige fest, in Gießen und im Raum Düsseldorf ebenso wie in Rom, Paris, Rotterdam sowie Brüssel und Antwerpen. Die Verflechtungen zwischen den Islamistenzellen in Belgien und Frankreich werden immer deutlicher.
Die Zahl der Toten hat sich nach den Bombenattacken auf den Brüsseler Flughafen und die Metrostation Maelbeek auf 35 erhöht, nachdem am Wochenende weitere Opfer ihren schweren Verletzungen im Krankenhaus erlagen. Die Innenminister der EU beschwören einander, doch endlich den Informationsaustausch zwischen den Geheimdiensten und den Sicherheitsbehörden grenzüberschreitend zu verbessern, um die Terrorgefahr nachhaltig zu minimieren.
Profiteure der zahlreichen Krisen sind EU-weit die Rechtspopulisten. Sie verschärfen die Krise. So könnten sie in Frankreich die Präsidentschaftswahl gewinnen. In Polen und Ungarn stellen sie bereits die Regierung.

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