Terrorgruppe Islamischer Staat wächst "Wir sollten uns auf eine neue Zeit des Terrors gefasst machen"

Die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) erfährt einen immer stärkeren Zulauf und führt ein effizientes Regime. Wissenschaftler und Nahost-Experte Walter Posch erklärt, wie man die Terror-Miliz zerschlagen sollte.

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Kinder, die mit ihren Familien vor der sunnitischen Terrormiliz Islamischer Staat (IS) geflohen sind, schlafen im Nordirak. „Die Leiden der Kurden und Jesiden werden auch in Jahren noch nicht vorbei sein.“ Quelle: dpa

WirtschaftsWoche: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wirft dem Westen vor, er lasse die Türkei im Kampf gegen die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) allein. Stimmen Sie ihm zu?

Diese Aussage ist vollkommen unglaubwürdig. Erdoğan hat die Bedrohung dieser Organisation in einer überraschenden Art und Weise heruntergespielt, während der Westen davor immer gewarnt und die Türkei um Mithilfe gebeten hat. Es waren andere, lokale Akteure, die immer vor Ort gewesen sind und den IS bekämpften. Die wichtigsten sind die Peschmerga im Irak, die PKK-Ableger in Syrien oder ein anderer Teil der PKK auf dem Sindschar-Gebirge, die freie syrische Armee oder das syrische Regime.

Fakten zum Terror im Irak

Die Türkei galt bis dato eher als Unterstützer des IS. Die Türkei soll immer wieder die Grenzen für die IS-Milizen geöffnet haben um sie so im Kampf gegen die Kurden zu unterstützen. Ist die Türkei nicht eher ein Profiteur des IS?

Der endgültige Beweis dafür fehlt, allerdings gibt es starke Indizien. Betrachtet man beispielsweise die Kurdenfrage: In den vergangenen 20 Jahren fand sich keine militärische Lösung. Deswegen fährt Erdoğan einen zweigleisigen Kurs: Auf der einen Seite verhandelt er innerhalb der Türkei mit Abdullah Öcalan, dem Kopf der PKK. Auf der anderen Seite schaut er zu, wie die PKK ihre gesamte militärische Macht auf Syrien und den Nordirak konzentriert.

Walter Posch forscht für die Stiftung Wissenschaft und Politik unter anderem über den Politischen Islam, Syrien, die Türkei und den Irak. Quelle: Stiftung Wissenschaft und Politik

Diese Situation spielt Erdoğan in die Karten.

Ja, all das stärkt die türkische Verhandlungsposition in der Kurdenfrage und schwächt die kurdische. Ihnen werden die militärischen Druckmittel genommen. Die Kurden werden wohl, wenn sich nichts ändert, schwere Verluste im Nordirak und Syrien davon tragen.

Erdoğan warf der UN zudem vor, die Türkei mit den Flüchtlingen alleine zu lassen. Wie kommt er dazu?

Das ist ein interessanter Punkt – bei den arabischen Flüchtlingen forderte er keine westliche Unterstützung ein. Es ist klar, dass die knapp eine Million syrischen Araber, die damals flohen, nicht mehr zurück in ihr Land können. Sie werden Erdoğan noch lange dafür dankbar sein, dass er sie aufnahm.

Gleichzeitig schließt Erdoğan die Grenze zu Syrien und überlässt tausenden Kurden, die vor dem IS fliehen, ihrem Schicksal.

Die kurdischen Flüchtlinge stammen aus Familien, die in den 30er Jahren vor den Kemalisten aus der Türkei nach Syrien flohen und dort seit Generationen ohne Staatsbürgerschaft lebten. Die wollen nun wieder zurückkehren in die Türkei – das will Erdoğan verhindern. Deswegen versucht er ganz massiv, den gesamten Diskurs über die Aufnahme der Flüchtlinge zu manipulieren. Anders ausgedrückt: für ihn sind die arabischen Flüchtlinge muslimische Brüder und die kurdischen Flüchtlinge Anhänger der PKK.

Die kurdische Führung wirft Erdoğan vor, mit der IS zu paktieren.

Das ist schwierig zu beweisen. Allerdings ist es auffällig, wie still die Türkei die Geiselnahme in den letzten Monaten betrachtete.

Zur Person

IS-Terroristen hatten im Juni das türkische Konsulat in Mossul gestürmt und 48 Geiseln genommen.

Da war Erdoğan offensichtlich sehr sicher, dass den Geiseln nichts passiert. Zudem ist bekannt, dass die Türkei in den letzten Jahren hinsichtlich freiwilliger Kämpfer, die sich dem IS angeschlossen hatten, nichts unternahm. Es gibt verschiedene Berichten aus der Region, wonach vor allem im Osten der Türkei Kämpfer rekrutiert worden. Die Mitgliedschaft in der PKK hat dagegen ein rasches Eingreifen der Behörden zur Folge. Allein das kann man als eindeutige Stellungnahme werten.

Auch der Koalition gegen den IS hat sich die Türkei lange verweigert. Mit Verweis auf die Geiseln wollte Erdoğan nicht aktiv eingreifen. Auch verweigert Ankara den USA die Nutzung der türkischen Luftwaffenstützpunkte.

Die Verweigerung der Kooperation ist nichts Neues. Die Türkei ist in vielen Fragen des Nahen Ostens ein bockiger Partner. Aber das ist eher der extrem antiamerikanischen Öffentlichkeit geschuldet. Andererseits ist die Türkei nach wie vor ein westliches Land und kann den internationalen Druck und die geschlossene Beurteilungslage des Westens hinsichtlich des IS nicht ignorieren.

„Man kann den IS nur stoppen, wenn man ihn militärisch niederringt“

Neben der Türkei werden auch Saudi-Arabien und Katar vorgeworfen, den IS zu unterstützen. Beide Staaten sollen mit Finanzmitteln helfen.

Ich glaube nicht, dass Saudi-Arabien oder Katar den IS direkt unterstützen. Einzelne Gruppen in beiden Staaten Syrien und Irak sicherlich, aber dass sie den IS direkt unterstützen, stimmt so nicht.

Aber in Staaten wie Katar, in denen so ein straffes Regime herrscht, sollte es doch möglich sein, solche Geldflüsse versiegen zu lassen – sofern sie nicht erwünscht sind.

Katar weiß genau, dass diese Gruppen auch in ihrem Land extremistische Mechanismen auslösen können, die sehr schnell gefährlich werden können. Das unterstützt der Katar nicht. Außerdem hat der IS sich von seinen Geldgebern früh unabhängig gemacht. Das macht ihn so unheimlich und gefährlich.

Armee mit Schrott
Helme der Bundeswehr Quelle: dpa
Der Puma-Panzer ist nicht zu bremsen Quelle: dpa
Eine Rekrutin der Bundeswehr sichert auf einem Truppenübungsplatz eine Patrouille. Quelle: dpa
Mitte September 2014 sorgte diese Panne für Aufsehen und lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit nach längerer Zeit wieder auf die Ausrüstungsmängel bei der deutschen Bundeswehr: Weil die Transall-Maschinen der Bundeswehr technische Defekte aufwiesen, konnten die Ausbilder, die kurdische Peschmerga-Kämpfer bei ihrer Arbeit gegen den radikal islamischen IS im Irak vorerst nicht zu ihrer Mission aufbrechen. Sie mussten die Maschinen auf dem Militärflugplatz Hohn wieder verlassen. Es ist die jüngste, aber bei weitem nicht die erste Blamage in Sachen Bundeswehrausrüstung. Quelle: AP
Wie jetzt durch einen Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ bekannt wurde, gab es auch bei den Bordhubschraubern vom Typ Sea Lynx der Marine erhebliche Ausfälle. Von 22 Maschinen sei keine einzige einsatzbereit, so das Blatt, was sich nach dem der „SZ“ vorliegenden internen Dokument 2014 auch nicht mehr ändern werde. Im Juni wurde demnach in einem Modell einer Fregatte ein 20 Zentimeter langer Riss entdeckt, woraufhin der komplette Betrieb mit dem Modell zunächst eingestellt wurde. Wohl zu Recht: Danach wurden an drei weiteren Hubschraubern ähnliche Schäden gefunden. Quelle: dpa
Bereits im August gab es Berichte über nur bedingt einsatzfähiges Bundeswehrmaterial. So meldete das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ unter Berufung auf ein internes Dokument des Verteidigungsministeriums, von den hier Schau fliegenden Kampfjets des Typs Eurofighter seien nur acht von 109 Maschinen voll einsatzbereit. Von 67 CH-53-Transporthubschraubern konnten demnach im August ebenfalls nur sieben in die Lüfte gehen. Quelle: dpa
Und auch die Bundeswehrhubschrauber vom Typ NH-90 glänzten nicht gerade mit Bereitschaft: Laut „Spiegel“ waren im Sommer nur fünf von 33 voll intakt, während unter den Transall-Maschinen des Typs C-160 auch damals nur 21 flugtüchtig waren. Quelle: dpa

Meinen Sie den Öl-Handel, der dem IS täglich Millionen Dollar einbringt?

Schon im Untergrund hat der IS eigene Finanzierungsmodelle gefunden. Er hat ein sehr rudimentäres Steuersystem aufgebaut. Dazu kommt der geschickte Einsatz von Schutzgeldern, Raub und das Beschlagnahmen von Eigentum von Teilen der Bevölkerung, die die falsche Religion ausüben.

Sehen Sie eine reale Gefahr darin, dass der IS-Terror nach Europa überschwappt?

Die Hinrichtungen in der Öffentlichkeit garantieren dem IS Öffentlichkeit, und sie verbreiten Schrecken. In erster Linie wird der IS vorerst in kompakter Form in der Region aktiv bleiben und dort alle Nicht-Sunniten massiv bedrohen. Wir hören von Kreuzigungen von Christen und den tragischen Schicksalen der jesidischen Frauen und Kinder, die zwangsverheiratet oder an die IS-Kämpfer verschenkt werden. All das sollte weit mehr Aufmerksamkeit und Mitleid verdienen. Ihre Leiden werden auch in Jahren noch nicht vorbei sein.

Sie sagen vorerst.

Ja, über ihre ausländischen Kämpfer wird der IS zunehmend auch nach Deutschland und Europa insgesamt hineinwirken können. Der IS führt ein effizientes Terrorregime – das ist gefährlich. Die Frage, wann er eine aktivere Europa- und Amerika-Politik betreiben wird, ist nur eine Frage der Zeit. Eine Zunahme des Terrors im Westen ist anzunehmen. Wir sollten uns auf eine neue Zeit des Terrors gefasst machen.

Ist das dadurch zu verhindern, dass Deutschland Nachtsichtgeräte und Sturmgewehre an die Kurden liefert?

Die Lieferungen gehen an die Peschmerga. Es gilt zu verhindern, dass der IS nicht von Mossul nach Erbil vorstößt. Das wäre eine Katastrophe. Eine weitere kurdische Flüchtlingswelle verkraftet niemand in der Umgebung mehr. Soll Erbil gesichert sein, sind solche Lieferungen unumgänglich. 

Wie ist es dann abzuwenden, dass der IS sich bis nach Europa ausbreitet?

Der IS nutzt die Schwäche, das Mitleid und die moralischen Werte der Europäer, die im Prinzip pazifistisch sind. Die Europäer wollen nicht intervenieren. Sie haben keine Truppen, die Bevölkerung stünde nicht hinter einem Einsatz – niemand ist bereit den Preis zu bezahlen. Betrachten Sie dagegen die Fotos der IS-Kämpfer: Sie erleiden glücklich ihr Martyrium. Dieser Fanatismus ist eine unbestrittene Stärke des IS.

Daher muss sich Europa auf die ausländischen Kämpfer des IS konzentrieren, was ja schon geschieht. Das heißt aber auch: Verstärkung und Ausbau der Deradikalisierungsprogramme für Rückkehrer und mehr Überzeugungsarbeit für die Zielgruppe der Jugendlichen, die anfällig für die Programme des Islamischen Staats ist.

Also bleibt Ihrer Einsicht nach einzig ein militärischer Schlag?

Man kann den IS nur stoppen, indem man ihn militärisch niederringt – und zwar endgültig. Der IS ist brutaler und gefährlicher als andere islamistische Gruppen. Diebstahl, Einschüchterungen und Morde gegen nicht muslimische Gruppen in der arabischen Welt hat es schon immer gegeben. Kinderraub, Frauenraub an Jesiden und Christen ist eine neue Dimension.

Die USA fliegen derzeit Luftangriffe auf IS-Stellungen. Den Einsatz von Bodentruppen hat US-Präsident Barack Obama ausgeschlossen. Stattdessen kooperiert er mit den teilweise autokratischen Regimen vor Ort.

Es ist der richtige Weg, die Regierungen in der Region davon zu überzeugen, dass der IS gefährlich ist. Die Tatsache, dass Saudi-Arabien aktiv an Einsätzen gegen den IS teilnimmt, ist gut. Was wir nicht wissen: Welche Zugeständnisse diplomatischer und politischer Natur dafür von den Amerikanern gegeben wurden.

Letztlich wird man die Türkei im Kampf gegen die IS brauchen. Wir können nur hoffen, dass die Türkei und die PKK einen Modus Operandi finden und gemeinsam gegen den IS vorgehen. 

Aber lösen militärische Schläge letztendlich nicht nur das Symptom – nicht die Krankheit?

Mit Blick auf den IS: Nein, es wäre Verhinderung einer grausamen, zukünftigen Realität, die sehr bald eintreten kann und die wir nicht leisten können.

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