
WirtschaftsWoche: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wirft dem Westen vor, er lasse die Türkei im Kampf gegen die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) allein. Stimmen Sie ihm zu?
Diese Aussage ist vollkommen unglaubwürdig. Erdoğan hat die Bedrohung dieser Organisation in einer überraschenden Art und Weise heruntergespielt, während der Westen davor immer gewarnt und die Türkei um Mithilfe gebeten hat. Es waren andere, lokale Akteure, die immer vor Ort gewesen sind und den IS bekämpften. Die wichtigsten sind die Peschmerga im Irak, die PKK-Ableger in Syrien oder ein anderer Teil der PKK auf dem Sindschar-Gebirge, die freie syrische Armee oder das syrische Regime.
Fakten zum Terror im Irak
Die Terrorgruppe ISIS („Islamischer Staat im Irak und in Syrien“) ist eine im Syrienkrieg stark gewordene Miliz. Die Gruppe steht seit 2010 unter Führung eines ambitionierten irakischen Extremisten, der unter seinem Kriegsnamen Abu Bakr al-Baghdadi bekannt ist. Die USA haben zehn Millionen Dollar auf seinen Kopf ausgesetzt. Ihm ist es in den vergangenen vier Jahren gelungen, aus einer eher losen Dachorganisation eine schlagkräftige militärische Organisation zu formen. Ihr sollen bis zu 10.000 Kämpfer angehören.
Die Gruppe nannte sich Ende Juni in IS um, da sie die Einschränkung auf den Irak und Syrien aufheben wollte.
ISIS sind Dschihadisten, Gotteskrieger. Sie kämpfen für eine strikte Auslegung des Islam und wollen ihr eigenes „Kalifat“ schaffen. Ihre fundamentalistischen Ziele verbrämt Isis bisweilen - wenn es in einzelnen Regionen gerade opportun erscheint. „Im Irak gerieren sie sich als Wahrer der sunnitischen Gemeinschaft“, weiß Aimenn al-Tamimi, ein Experte für die militanten Einheiten in Syrien und im Irak. „In Syrien vertreten sie ihre Ideologie und ihr Projekt weit offener.“ In der syrischen Stadt Rakka beispielsweise setzen die Extremisten ihre strikte Auslegung islamischer Gesetze durch. Aktivisten und Bewohner in der Stadt berichten, dass Musik verboten wurde. Christen müssen eine „islamische Steuer“ für ihren eigenen Schutz zahlen.
Ihre Taktik ist eine krude Mischung von brutaler Gewalt und Anbiederung - alles zwischen Abschreckung durch das Köpfen von Feinden und Eiscreme für die Kinder in besetzen Gebieten. Das alles dient der Al-Kaida-Splittergruppe Isis nur zu einem Ziel: den Islamischen Staat im Irak und Syrien zu bilden, den ihr Name verheißt. Die Gruppe, der bis zu 10.000 Kämpfer angehören sollen, hat diese Woche die irakischen Städte Mossul und Tikrit überrannt und den Marsch auf Bagdad angekündigt.
Zu Jahresbeginn hatte Isis bereits die Stadt Falludscha und Teile der Provinz Anbar westlich von Bagdad unter ihre Kontrolle gebracht. Inzwischen hat ISIS maßgeblichen Einfluss auf ein Gebiet, das von der syrisch-türkischen Grenze im Norden bis zu einem Radius von 65 Kilometern vor der irakischen Hauptstadt reicht. Der einstige Ableger des Terrornetzwerks Al-Kaida, den US-Truppen vor ihrem Abzug aus dem Irak 2011 besiegt zu haben meinten, blüht in einer neuen Inkarnation wieder auf. Dabei profitiert Isis von den Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten, die ihre sunnitische Anhängerschaft radikalisieren.
Bislang drangen ISIS-Kämpfer bis zur Provinz Dijala knapp 60 Kilometer nördlich von Bagdad vor. Rund 50 Kämpfer sollen dort laut Medienberichten bei Gefechten mit der irakischen Armee getötet worden sein. Die Isis habe sich daraufhin zurückgezogen, hieß es. Mittlerweile haben die Kämpfer die Städte Dschalula und Sadija in der Provinz Dijala unter ihre Kontrolle gebracht. Die Städte liegen 125 beziehungsweise 95 Kilometer von Bagdad entfernt.
Nach dpa-Informationen erbeuteten ISIS-Kämpfer in Mossul 500 Milliarden irakische Dinar (318 Millionen Euro) in der Zentralbank. Damit wird Isis zur reichsten Terrororganisation vor Al-Kaida. Experten schätzen das Vermögen der Al-Kaida auf 50 Millionen bis 280 Millionen Euro. Auch schweres Kriegsgerät soll ISIS erbeutet haben. Im Netz kursierende Videos zeigen irakische Panzer und Helikopter mit der schwarzen Flagge der Isis bei einer Militärparade in Mossul.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warf Isis Bombenanschläge in Wohngebieten, Massenexekutionen, Folter, Diskriminierung von Frauen und die Zerstörung kirchlichen Eigentums vor. Einige Taten kämen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleich. Nach Angaben der Organisation Ärzte ohne Grenzen sind mittlerweile rund eine Million Iraker auf der Flucht. Viele versuchten das als stabil geltende kurdische Autonomiegebiet im Nordirak zu erreichen. Allein in Mossul waren binnen weniger Stunden 500.000 Menschen vor den Extremisten geflohen.
Ministerpräsident Al-Malikis Versuch, am 12. Juni 2014 den Notstand auszurufen, war am Parlament gescheitert, das eine Abstimmung wegen mangelnder Beteiligung verschob. Seit Monaten zeigt sich Al-Maliki praktisch machtlos gegen den Terror sunnitischer Extremisten im Land. Dieser kostete seit April 2013 Tausenden Menschen das Leben.
Der UN-Sicherheitsrat sagte der irakischen Regierung einmütig Unterstützung im Kampf gegen Terrorismus zu. Die Nato und Großbritannien schlossen einen militärischen Eingriff aus. Auch der iranische Präsident Hassan Ruhani hat dem Nachbarland die uneingeschränkte Solidarität im Kampf gegen die Terrorgruppe Isis zugesichert. Sowohl auf regionaler als auch internationaler Ebene werde der Iran alles im Kampf gegen die Terroristen im Irak unternehmen, sagte Ruhani dem irakischen Regierungschef Nuri al-Maliki. Mittlerweile prüft die US-Regierung auch militärische Optionen.
Die Türkei galt bis dato eher als Unterstützer des IS. Die Türkei soll immer wieder die Grenzen für die IS-Milizen geöffnet haben um sie so im Kampf gegen die Kurden zu unterstützen. Ist die Türkei nicht eher ein Profiteur des IS?
Der endgültige Beweis dafür fehlt, allerdings gibt es starke Indizien. Betrachtet man beispielsweise die Kurdenfrage: In den vergangenen 20 Jahren fand sich keine militärische Lösung. Deswegen fährt Erdoğan einen zweigleisigen Kurs: Auf der einen Seite verhandelt er innerhalb der Türkei mit Abdullah Öcalan, dem Kopf der PKK. Auf der anderen Seite schaut er zu, wie die PKK ihre gesamte militärische Macht auf Syrien und den Nordirak konzentriert.

Diese Situation spielt Erdoğan in die Karten.
Ja, all das stärkt die türkische Verhandlungsposition in der Kurdenfrage und schwächt die kurdische. Ihnen werden die militärischen Druckmittel genommen. Die Kurden werden wohl, wenn sich nichts ändert, schwere Verluste im Nordirak und Syrien davon tragen.
Erdoğan warf der UN zudem vor, die Türkei mit den Flüchtlingen alleine zu lassen. Wie kommt er dazu?
Das ist ein interessanter Punkt – bei den arabischen Flüchtlingen forderte er keine westliche Unterstützung ein. Es ist klar, dass die knapp eine Million syrischen Araber, die damals flohen, nicht mehr zurück in ihr Land können. Sie werden Erdoğan noch lange dafür dankbar sein, dass er sie aufnahm.
Gleichzeitig schließt Erdoğan die Grenze zu Syrien und überlässt tausenden Kurden, die vor dem IS fliehen, ihrem Schicksal.
Die kurdischen Flüchtlinge stammen aus Familien, die in den 30er Jahren vor den Kemalisten aus der Türkei nach Syrien flohen und dort seit Generationen ohne Staatsbürgerschaft lebten. Die wollen nun wieder zurückkehren in die Türkei – das will Erdoğan verhindern. Deswegen versucht er ganz massiv, den gesamten Diskurs über die Aufnahme der Flüchtlinge zu manipulieren. Anders ausgedrückt: für ihn sind die arabischen Flüchtlinge muslimische Brüder und die kurdischen Flüchtlinge Anhänger der PKK.
Die kurdische Führung wirft Erdoğan vor, mit der IS zu paktieren.
Das ist schwierig zu beweisen. Allerdings ist es auffällig, wie still die Türkei die Geiselnahme in den letzten Monaten betrachtete.
Zur Person
Walter Posch ist für die Stiftung Wissenschaft und Politik in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika tätig. In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit dem Irak, den Kurden im Nahen Osten, Syrien, der Türkei und dem Politischen Islam.
IS-Terroristen hatten im Juni das türkische Konsulat in Mossul gestürmt und 48 Geiseln genommen.
Da war Erdoğan offensichtlich sehr sicher, dass den Geiseln nichts passiert. Zudem ist bekannt, dass die Türkei in den letzten Jahren hinsichtlich freiwilliger Kämpfer, die sich dem IS angeschlossen hatten, nichts unternahm. Es gibt verschiedene Berichten aus der Region, wonach vor allem im Osten der Türkei Kämpfer rekrutiert worden. Die Mitgliedschaft in der PKK hat dagegen ein rasches Eingreifen der Behörden zur Folge. Allein das kann man als eindeutige Stellungnahme werten.
Auch der Koalition gegen den IS hat sich die Türkei lange verweigert. Mit Verweis auf die Geiseln wollte Erdoğan nicht aktiv eingreifen. Auch verweigert Ankara den USA die Nutzung der türkischen Luftwaffenstützpunkte.
Die Verweigerung der Kooperation ist nichts Neues. Die Türkei ist in vielen Fragen des Nahen Ostens ein bockiger Partner. Aber das ist eher der extrem antiamerikanischen Öffentlichkeit geschuldet. Andererseits ist die Türkei nach wie vor ein westliches Land und kann den internationalen Druck und die geschlossene Beurteilungslage des Westens hinsichtlich des IS nicht ignorieren.