Terrorismus Frankreichs schwieriger Umgang mit Gefährdern

Nach dem jüngsten Anschlag verschärft sich die Debatte um Terrorismusbekämpfung. In Frankreich befinden sich Tausende islamistische Gefährder.

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Paris In den letzten fünf Jahren hat es 78 Attentatsversuche im Zusammenhang mit islamistischem Terrorismus in Frankreich gegeben. 50 konnten verhindert werden, 17 sind fehlgeschlagen, aber elf wurden ausgeführt. 245 Tote und über 900 Verwundete sind die Bilanz. Das bislang letzte Attentat fand am 23. März dieses Jahres in Carcassonne und dem Vorort Trèbes statt, als der 27-jährige Radouane Lakdim auf Polizisten schoss, einen Autofahrer tötete und in einem Supermarkt einen Kunden und einen Angestellten sowie einen Offizier der Gendarmerie ermordete.

Am vergangenen Donnerstag wurde an den Mut und die Opferbereitschaft von Oberstleutnant Arnaud Beltrame mit einem Staatsakt im Hotel des Invalides in Paris erinnert. Er hatte sich freiwillig gegen eine Geisel austauschen lassen und in die Gewalt des Terroristen begeben. Fast drei Stunden hielt er sich in dem Supermarkt auf, versuchte offenbar, den Attentäter zu entwaffnen und wurde von diesem niedergestochen.

Wie nach jedem Anschlag fragen die Franzosen sich erneut, wie man mit Menschen umgehen soll, die laut Auskunft der Geheimdienste potentielle Gefährder sind, aber aktuell erkennbar weder eine Straftat planen noch gar bereits an der Ausführung sind. Lakdim hatte eine sogenannte „Fiche S“, eine Akte des Inlandsgeheimdienstes, auf denen unterschiedliche Gefährdungen vermerkt sind, die von den betreffenden Personen ausgehen können. Dabei kann es sich um politische, islamistische oder auch um gewöhnliche kriminelle Verdächtige handeln. Rund 11.000 solcher Akten soll es für potenzielle islamistische Straftäter in Frankreich geben.

Nach dem Anschlag in Carcassonne kamen aus verschiedenen politischen Kreisen erneut Forderungen hoch, man müsse Gesetze verschärfen und Personen, die eventuell einen Anschlag begehen könnten, bereits vorbeugend in Haft nehmen. „Die islamistische Ansteckung muss ausradiert werden“, tönte Laurent Wauquiez, Parteichef der konservativen „Republikaner“, und verlangte die „Administrativhaft für die gefährlichsten Verdächtigen.“ Wie er feststellen will, wer die Gefährlichsten sind, verriet Wauquiez nicht.

Nicht nur die extreme Rechte, sondern auch manche gemäßigte Konservative und sogar Persönlichkeiten wie der frühere sozialistische Premierminister Manuel Valls, der heute zur Fraktion von „La Republique en marche“ des Staatspräsidenten Emmanuel Macron zählt, verlangen in unterschiedlicher Schärfe solch eine Schutzhaft.

Nach den Maßstäben des Rechtsstaats ist das allerdings nicht möglich, und die meisten derjenigen, die die Forderung erheben, werden das auch wissen. Denjenigen, die es vergessen haben sollten, rief Premierminister Edouard Philippe es bei einer Parlamentsdebatte in der vergangenen Woche noch einmal in Erinnerung: „In Frankreich kann man wie in jedem anderen demokratischen Rechtsstaat nur dann inhaftiert werden, wenn man verurteilt ist.“ Die Fiche S sei ein Instrument der Polizei, aber kein hinreichender Grund für eine Inhaftierung. Philippe, der selber von den Konservativen kommt, bezeichnete es als sinnlos, nach jedem Anschlag eine Diskussion über Gesetzesverschärfungen zu führen.

Das Arsenal der Gesetze gegen den Terrorismus ist bereits äußerst umfangreich. Nicht nur Gewalt gegen Personen oder gegen Sachen kann als Terror-Delikt verurteilt werden, sondern auch Geldwäsche, Verharmlosung des Terrorismus oder Aufrufe zur Gewalt. Auf Grundlage dieser Gesetze wurden bereits zahlreiche Moscheen geschlossen, in denen Hassprediger wirkten. Der Rechtsstaat ist also alles andere als zahnlos.

Gegenwind bekamen die Befürworter der Schutzhaft auch von einem Konservativen: Frédéric Péchenard, früherer Generaldirektor der Polizei, bezeichnete die Forderung als „sinnlos und nicht zu verwirklichen“.

Für die Franzosen ist es dennoch eine Belastung, zu wissen, dass tausende Menschen mitten unter ihnen leben, die zumindest gewisse Sympathien für terroristische Gewalttäter haben. Die Polizei und der Inlandsgeheimdienst beobachten sie so gut es geht, und in Frankreich geht sehr viel: Die Überwachung von Mobiltelefonen, des Mailverkehrs und der sozialen Netzwerke ist sehr stark ausgeprägt.

Die Inlandsgeheimdienste sind personell verstärkt worden, ihre Technik wurde modernisiert. Aber auch die modernsten Algorithmen und die dichteste Beobachtung islamistischer Zellen erlauben es nicht immer, Anzeichen dafür zu finden, dass jemand vom Sympathisant zum radikalisierten Täter wird.

So stellte auch Innenminister Gérard Collomb nach dem Anschlag in Carcassonne fest: „Wir hatten keine Anzeichen dafür, dass Lakdim sich radikalisiert hatte.“ Er wurde dennoch überwacht, ein paar Tage nach der Tat wurde bekannt, dass er einen Termin für ein Routine-Verhör bei der Polizei hatte. Doch zu wissen, wann ein Täter einen Anschlag plant, noch bevor er mit den Vorbereitungen dafür begonnen hat, gehört immer noch in den Bereich von Science Fiction.

Hinzu kommt, dass eine ganze Reihe der gelungenen Attentate von radikalisierten Muslimen ausgeführt wurden, die vorher überhaupt noch nicht auffällig geworden waren und auch keine Akte bei Polizei oder Geheimdienst hatten. Die Sicherheitskräfte in Frankreich arbeiteten deshalb lange mit dem Begriff des „einsamen Wolfs“, also eines Täters, der unauffällig ist und sich ganz alleine radikalisiert. So war es anfangs auch im Falle von Mohammed Merah, der Anfang 2012 in Toulouse mehrere Soldaten und jüdische Kinder ermordete.

Doch wie bei Merah kam auch bei den anderen angeblichen „einsamen Wölfen“ später heraus, dass sie ein ganzes Netzwerk von Komplizen hatten, das die Sicherheitsdienste entweder nicht kannten oder dessen Gefährlichkeit nicht erfassten. Manuel Valls schlägt angesichts der schwierigen Ermittlungsmöglichkeiten vor, den ganzen Salafismus zu verbieten.

Wie das allerdings gehen soll bei einer Ideologie, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie weder klar definiert noch zentralistisch organisiert ist, hat er bislang noch nicht erläutert. Philippe hielt ihm knapp entgegen: „Wir können Organisationen verbieten, aber keine Ideen.“

Wirksamer als radikal wirkende, aber letztlich folgenlos bleibende Vorschläge wirkt eine Anregung von Ex-Polizeidirektor Péchenard, der fordert, die Überwachung in den Gefängnissen zu verbessern. Eine fatale Folge der Illusion, schon das Wegschließen alleine würde etwas verbessern, ist die kriminelle Karriere einiger Attentäter: Im Gefängnis nahmen sie gehärtete Ideologen unter ihre Fittiche und bildeten sie zu Mordmaschinen aus.

Noch immer hat der Staat keine Antwort auf die Frage gefunden, wie man mit den Verurteilten umgehen soll, von deren Neigung zum Dschihadimus man weiß. Lange brachte man sie alle gemeinsam unter – und schuf auf diese Weise eine Art „Dschihad Akademie“ im Knast.

Macron würdigte in seiner Ansprache bei der Trauerfeier für Beltrame dessen Mut, der „den französischen Willen zum Widerstand“ verkörpere. Er forderte jeden Franzosen zu mehr Wachsamkeit gegenüber potenziellen Islamisten auf. Der Terrorismus sei „eine neue Prüfung für das französische Volk“, wie es in seiner Geschichte schon viele haben bestehen müssen. „Wir werden auch diese bestehen, ohne Schwäche, aber auch ohne Maßlosigkeit, dank unserer Widerstandskraft.“

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