Terroristenfabrik Gefängnis Radikalisierung hinter Gittern

Die französischen Haftanstalten gelten als „Brutstätten des Terrorismus“. Mehrere Pariser Attentäter hatten sich erst hinter Gittern radikalisiert. Frankreich will das künftig verhindern – mit verschiedenen Mitteln.

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Islamistische Menschenfänger haben in Frankreichs Haftanstalten oft leichtes Spiel – gerade bei wütenden, labilen Gefangenen aus der Banlieue. Quelle: dpa

Fresnes Einige Häftlinge machten in den Zellen des Gefängnisses von Fresnes klare Ansagen. Beim Duschen muss eine Unterhose getragen werden, Frauensport ist im Fernsehen tabu, Sex als Gesprächsthema verboten - die Gefängnisinsassen predigen eine radikale Interpretation des Islams, die sie anderen aufdrängten. So jedenfalls schildern Aufseher die Lage in der Haftanstalt südlich von Paris, bevor Gefängnisdirektor Stéphane Scotto im Herbst 2014 einschritt. Er sonderte Häftlinge, die als Radikalisierer eingestuft wurden, vom Rest der Insassen ab.

„Eine Mehrheit muss vor einer Minderheit geschützt werden“, betont er heute. Der anfangs vom Pariser Justizministerium skeptisch beäugte Alleingang ist nach dem Terroranschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ zu einer Art Blaupause für Gefängnis-Reformprogramme geworden, um die Radikalisierung hinter Gittern zu verhindern.

Das Thema hatte neue Brisanz erhalten, da sich mehrerer Attentäter im Gefängnis radikalisiert haben sollen. Chérif Kouachi, der mit seinem Bruder den Anschlag auf „Charlie“ verübte, und Amédy Coulibaly, der kurz darauf einen jüdischen Supermarkt angriff, lernten sich beispielsweise im Gefängnis kennen.

Nicht erst sei dem Terroranschlag auf „Charlie Hebdo“ wird dieser Verdacht oft geäußert: Hinter Gittern haben radikale Menschenfänger die Möglichkeit, die Wut labiler Mitgefangener aus den sozial abgehängten französischen Banlieues (Vororten) auf das System zu nutzen und diese auf ihre Seite zu ziehen. „Gefängnisse sind ein Brutapparat für Radikalisierung“, sagte der EU-Anti-Terror-Beauftragte Gilles De Kerchove im vergangenen Jahr. Ein Polizei-Verantwortlicher sprach gegenüber der französischen Gefängnisaufsicht CGLP sogar von einer „Brutstätte des Terrorismus“.

Frankreich hat kürzlich fünf spezielle Einheiten in Haftanstalten geschaffen, die das Abgleiten junger Männer in einen radikalen, gewaltbereiten Islam aufhalten oder sogar umkehren sollen. Durch Gesprächskreise, Treffen mit Terroropfern oder Historikern sollen sie dazu gebracht werden, ihr gewalttätiges Weltbild infrage zu stellen. Die Aufseher werden besonders geschult. Zunächst ist in jeder Einheit Platz für etwa 20 Insassen.


„Es ist möglich, den Riss zu kitten“

„Wenn wir diesen Leuten zeigen können, dass die Gesellschaft sich für sie interessiert“, sagte die Programmleiterin Geraldine Blin kürzlich vor Journalisten, „dann ist es möglich, den Riss zu kitten.“ Ein Ansatz, der auch die Verschärfung der sicherheitspolitischen Debatte nach den Pariser Anschlägen vom 13. November überdauert hat.

Die Haftanstalt von Fresnes stammt aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, der zentrale Korridor ist hell gestrichen und mit altem Parkett ausgelegt. Die Gefangenen sind auf drei Trakte mit vier Etagen verteilt, zwischen denen Netze hängen, um Suizide zu verhindern. In einem Teil des ersten Trakts sitzen hinter Holztüren mit Metallriegeln derzeit 39 Männer in Einzelzellen, die vom Rest der Gefangenen abgesondert werden. Einzelzellen sind in den überlasteten französischen Gefängnissen unüblich.

„Das ist keine Isolation“, betont Gefängnischef Scotto. Die Gruppe habe untereinander Kontakt, bei bestimmten Aktivitäten wie Sport ist unter Aufsicht auch der Umgang mit anderen Gefangenen möglich. Die Spannungen unter Häftlingen hätten sich verringert, resümiert Scotto.

Die neuen Deradikalisierungsprogramme wenden sich nicht an die gefährlichsten Islamisten, die oft ohnehin in Isolationshaft sitzen und regelmäßig verlegt werden. Es geht um Menschen, bei denen man hofft, noch eine Veränderung bewirken zu können. „Wir arbeiten an der Widerherstellung eines kritischen Bewusstseins“, sagt Scotto.

Die Initiative wirft viele Fragen auf, die noch nicht geklärt sind. Bislang ist ein zentrales Kriterium für die Auswahl der Haftgrund, also ein Verfahren oder eine Verurteilung wegen islamistischen Terrorismus. Wie aber kann man es rechtzeitig erkennen, wenn gewöhnliche Kriminelle sich in der Haft radikalisieren?

Die alten Muster taugen nicht mehr, seit einiger Zeit merken die Aufseher, dass Gefangene solche Überzeugungen verstecken und nicht mehr offen ausleben.

Kritiker fragen sich auch, ob die so zusammengelegten Männer sich nicht gegenseitig in ihren Überzeugungen verstärkten. Dieses Risiko werde durch Einzelhaft und Begleitung gemindert, heißt es von Verantwortlichen.

Der britische „Guardian“ stellte jüngst noch eine ganz andere Überlegung an, nämlich ob das eigentliche Problem nicht woanders liege - im Gefühl mancher Muslime, in Frankreich ausgeschlossen und benachteiligt zu sein. „Dass Gefängnisse ein Radikalisierungsproblem haben steht außer Frage. Freilich dürfte es einfacher sein, die Haftbedingungen zu verändern, als die gesellschaftliche Kluft zwischen Frankreich und seinen Muslimen zu überbrücken.“

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