Ein grauer Schleier aus Staub und Baumwolle bedeckt die Überreste der russischen Textilindustrie. In Reih und Glied harren die letzten der gut 50 Jahre alten grünen Spinnmaschinen, die zu Sowjetzeiten den Ruf der Stadt Iwanowo als russisches Manchester begründeten, des Abtransports zur Schrottpresse. An ihnen fertigten die einst bis zu 7000 Mitarbeiter des Textilherstellers Schujskije Sitzy Bettzeug und Tischdecken aus Kattun.
Die gut sechs Autostunden nordöstlich von Moskau gelegene Stadt wurde Ende des 18. Jahrhunderts zur Textilhochburg: Damals hatte Zarin Katharina II. den Stofffabrikanten Steuern erlassen, um für verarmte Bauern Arbeit zu schaffen. Statt derer kamen Näherinnen aus dem ganzen Zarenreich, die Iwanowo bis weit in die Sowjetzeit hinein zur „Stadt der Bräute“ machte.
Nach dem Ende des Sozialismus schrumpfte mit der Textilbranche auch die Einwohnerzahl von Iwanowo um ein Fünftel auf 400.000. Doch heute stört im alten Maschinenhaus von Schujskije Sitzy ein Höllenlärm aus dem Fabriksaal nebenan die Friedhofsruhe: High-Tech-Spinnräder des Weltmarktführers Trützschler aus Mönchengladbach rattern dort vollautomatisch rund um die Uhr. Ingenieure steuern die Anlage aus dem klimatisierten Kontrollraum wie ein Atomkraftwerk.
Die wichtigsten Erkenntnisse der Human Rights Watch-Studie zur kambodschanischen Textilindustrie
Die Textilindustrie ist entscheidend für die kambodschanische Wirtschaft. 2013 erzielte das Land Exportumsätze in Höhe von 6,48 Milliarden Dollar. Davon machten Textilien von 4,96 Milliarden Dollar aus. Im Jahr 2014 betrug der Textilexport rund 5,7 Milliarden Dollar.
Quelle: Human Rights Watch
Außerdem kamen im Jahr 2014 noch einmal 350 Millionen Dollar aus dem Export von Schuhen hinzu.
Wer nicht im landwirtschaftlichen Sektor arbeitet, ist in Kambodscha in der Textilindustrie tätig. Überwiegend sind das Frauen. Sie machen einen Anteil von 90 bis 92 Prozent aus. Darin nicht enthalten sind die Näherinnen, die zuhause anstatt in einer Fabrik arbeiten. Demgegenüber stehen laut Human Rights Watch rund 700.000 männliche Arbeiter.
Laut Human Rights Watch gehören Überstunden in kambodschanischen Textilfabriken zum Alltag, die Temperaturen in den Fabriken seien viel zu hoch, außerdem dürfen viele Arbeiter keine Pausen machen oder etwas trinken. Belästigungen seien an der Tagesordnung. Es gebe weder Wasser noch Seife in der Nähe der Toiletten, wer krank ist, muss Lohnkürzungen hinnehmen, Mutterschutz ist ein Fremdwort und die Arbeitsverträge sind ein Witz.
Das kambodschanische Arbeitsministerium hat im Jahr 2013 bei 295 Betrieben (nicht alle davon Textilbetriebe) Verstöße gegen das Arbeitsrecht festgestellt. Im Dezember 2014 habe das Ministerium gegen 25 dieser Betriebe ein Bußgeld verhängt. Gegen insgesamt 50 Betriebe sei man vorgegangen. Weitere Details sind nicht bekannt. Dass sich die Arbeitsbedingungen in den Nähereien dadurch verbessert haben, kann das Ministerium nicht belegen.
Viele Textilfirmen vergeben befristete Arbeitsverträge, die oft nur für Stunden oder Tage gelten. So lastet ein immenser Druck auf den Nähern. Immerhin: Der Anteil der Betriebe, die diese extrem kurzen Verträge einsetzen, ist von 76 Prozent im Jahr 2011 auf 67 Prozent im Jahr 2013/2014 gesunken.
Laut dem kambodschanischen Arbeitsrecht hat ein regulärer Arbeitstag zehn Stunden, mehr als zwölf Stunden darf niemand pro Tag arbeiten. In der Praxis arbeiten die Näher jedoch deutlich länger. Wer sich weigert, muss Gehaltskürzungen hinnehmen oder wird entlassen.
Roman Kusnezow ist stolz auf das Werk, dessen Chef er ist: „Wir produzieren jeden Monat 1500 Tonnen Stoff.“ Das sei so viel wie nie zuvor in der bald 200-jährigen Unternehmensgeschichte – obwohl nur noch 800 Mitarbeiter übrig sind.
Risiko Rubel-Kurs
Nach dem Siechtum der Textilindustrie infolge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise müsste jetzt wieder Goldgräberstimmung herrschen in Iwanowo. Betriebe wie Schujskije Sitzy, die bis 2008 in moderne Anlagen investiert haben, sollten vom niedrigen Rubel profitieren. Dessen Kurs stürzte wegen der Ukrainepolitik von Präsident Wladimir Putin, Kapitalflucht und westlichen Sanktionen 2014 um fast die Hälfte gegenüber dem Euro und gar um 60 Prozent gegenüber dem Dollar.
Das macht russische Produkte schlagartig wettbewerbsfähiger im Export. Zugleich sollte die Nachfrage nach heimischen Gütern anziehen: Der schwache Rubel verteuert Importkleidung, made in Iwanowo dagegen bleibt erschwinglich.
Das Textilzentrum könnte also zum Gewinner der Krise werden, während man sich in Moskau auf eine um vier, fünf Prozent sinkende Wirtschaftskraft vorbereitet. Wären da nicht auch Hemmnisse: Der fallende Rubel verteuert zugleich Rohstoffe und Zulieferteile aus dem Ausland. Und die westlichen Sanktionen machen die Finanzierung von neuen Investitionen praktisch unmöglich.
Noch sehen sich Unternehmen wie Sitzy daher nicht als klare Krisenprofiteure. Zu unübersichtlich ist die Lage. Kusnezow, ein knorriger Mann mit Bürstenschnitt und harten Gesichtszügen, schwärmt zwar von deutscher Produktionstechnik und zweifelt keine Sekunde an der Wettbewerbsfähigkeit seines Unternehmens mit einem Jahresumsatz von umgerechnet 33 Millionen Euro. Bei ihm kaufen etwa Möbelriese Ikea und die Düsseldorfer Metro für den russischen Markt ein. Aber er sorgt sich um seine Einkaufskosten: „Die Baumwollpreise fallen, aber nicht so tief wie der Rubel.“
Bei Ersatzteilen und Chemikalien sei er auf deutsche Lieferanten angewiesen, deren Waren der Rubel-Verfall deutlich verteuert. Immerhin habe man sich mit den Deutschen auf einen Kompromisspreis geeinigt, um nicht wie andere Textilfabriken die Bestellungen stornieren zu müssen: „Im Sinne der Qualität wollen wir die Chemie weiter aus Europa importieren.“
Die Abhängigkeit vom westlichen Finanzsystem
Der Kostendruck bleibe hoch, steigende Nachfrage könne das kaum abmildern. Bis April sei Hochsaison in der Produktion der Sommerware. Erst danach könne er die weitere Entwicklung abschätzen. „Aber wir haben die Preise bis Neujahr nur einmal um zehn Prozent erhöht“, sagt er, das sei viel zu wenig. Ob der Markt noch höhere Preise verkraftet? Kusnezow zuckt mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“
Händler wie Galina Barikina bezweifeln es. Sie verkauft in der Shoppingmall Rio Waren aus der Region. Barikina hat sich auf Kleidung für einfache Leute verlegt, zum Beispiel für Soldaten und jene, die ihnen nacheifern.
Bei ihr findet man alles, was das derzeit wieder höher schlagende Herz des Patrioten begehrt: blau-weiß gestreifte Marine-Leibchen, Tarnfleck-Shirts in Grau, Blau und Olivgrün, sogar Babystrampler in Militärfarben gibt’s bei der Mittfünfzigerin zu kaufen. Die meisten Teile kosten umgerechnet wenig mehr als 1,40 Euro.
Der Stil gilt diesseits der Provinz allerdings als arg verbesserungswürdig. Barikina ficht das nicht an. „Neuerdings kaufen sogar junge Frauen bei uns“, erzählt sie. Die gestreiften Armeeshirts seien Mode geworden. Sie hat ihrem fünfjährigen Enkel auch so ein Hemdchen gekauft.
Einkaufskosten für Hersteller steigen
Aber trotz des zunehmenden Patriotismus registriert Barikina kaum steigende Verkäufe. Denn ihre Chefin musste die Waren seit Oktober um eine zweistellige Rate verteuern. Seit Putin im August mit einem Teilembargo gegen westliche Produkte auf die Sanktionen reagierte, steigen quer durch alle Produktgruppen die Einkaufskosten für die Hersteller. „Ich kann mich gar nicht an die neuen Zahlen gewöhnen, so schnell tauschen wir neuerdings die Schildchen aus“, sagt Barikina. Angesichts steigender Preise und der Krisenstimmung prophezeit sie: „Die Leute werden weniger Kleidung und Bettzeug kaufen.“ Auch privat hat sie auf Krisenmodus umgeschaltet und baut auf ihrer Datscha am Stadtrand mehr Kartoffeln, Karotten und Kohl an.
Die Hauptstraße in Iwanowo, die immer noch Lenins Namen trägt, sieht nicht nach Krise aus, die Restaurants sind gut besucht. Aber das sei bei Krisen in Russland immer so, sagt Ökonom Leonid Iwanow, Präsident der Handels- und Industriekammer in der Region Iwanowo. Mit der Rezession von 2009 infolge der Finanzkrise in den USA sei die aktuelle Lage dennoch nicht zu vergleichen. Denn damals sei Russland nicht vom Finanzmarkt abgeschnitten gewesen, so Iwanow, heute schon: „Diese Krise trifft uns doppelt.“ Westliche Sanktionen würgten die Kreditwirtschaft in einem Moment ab, in dem die Nachfrage ohnehin schon eingebrochen sei.
Abhängigkeit vom westlichen Finanzsystem
Der Bürgermeister und der Gouverneur von Iwanowo – Letzterer ist selbst ein Textilunternehmer – hätten jüngst sogar drei Industrieparks mit vergünstigten Steuern und vereinfachtem Bodenerwerb ausgewiesen. Bloß wozu? „In dieser Situation brauchen wir auf Investoren nicht zu warten“, klagt Iwanow.
Bei Kreditzinsen von aktuell 24 bis 26 Prozent kämen lokale Unternehmer nicht einmal an genug Kapital, um ihre Vorprodukte zu finanzieren. Erst recht fehlten die Mittel, um zusätzliche Kapazitäten für den Export aufzubauen.
In den Jahren zuvor hatte es die russische Regierung trotz hoher Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport nie vermocht, die Abhängigkeit der Unternehmen vom westlichen Finanzsystem zu senken. Jetzt klemmt der Westen mit Sanktionen die Staatsbanken von der Refinanzierung ab, worauf diese die kleineren Banken nicht mehr mit Mitteln versorgen können. Gegen die Kreditklemme hat die Regierung keine Strategie. Stattdessen plant Moskau einen zweistelligen Euro-Milliardenbetrag für Bankenrettungen ein.
Ökonom Iwanow sieht die Chancen der hiesigen Textilbranche kritisch, trotz des niedrigen Rubels: „Wer nicht schon vor der Krise in Auslandsmärkten Fuß gefasst hat, wird jetzt nicht über Nacht diese Kontakte aufbauen können.“
Russland fehlt ein global wettbewerbsfähiges Wirtschaftssystem
Einer der wenigen erfolgreichen Exporteure ist Wasili Guschtschin, Geschäftsführer bei Ivregion Synthes, einem der größten Textilhersteller der Region und Lieferant von Ikea. Der Manager ist stolz darauf, dass sein Betrieb die Krise von 2009/10 überstanden hat, als viele Wettbewerber insolvent gingen. „Ausgerechnet in dem Moment, als die Wirtschaftskrise in Russland begann, kam es zu einem unbeschreiblichen Anstieg der Baumwollpreise.“ Das immerhin sei heute anders.
„Die Nachfrage im Export ist da, und wir haben durch den niedrigen Rubel-Kurs Wettbewerbsfähigkeit gewonnen“, sagt der Unternehmer. Den Währungseffekt fresse zwar teilweise der teurere Import von Baumwolle auf, die er aus Zentralasien kauft und in Dollar abrechnet. Zudem seien Farben und Chemikalien teuer geworden. Vor allem aber fehlten Kapazitäten, denn die vorhandenen seien ausgelastet.
Guschtschin bezweifelt jedoch, dass es auch zu einem Nachfrageschub im Binnenmarkt kommt: „In schweren Zeiten wie diesen kaufen die Russen keine Haushaltstextilien, sondern Fernseher und Kühlschränke.“ Die gelten als Wertanlagen.
Politiker faseln in Russland dieser Tage gern von den vielen im Land produzierten Produkten.
Import-Substitution heißt das Zauberwort in den staatlich gelenkten Medien. Es transportiert den Trotz der stolzen Russen gegenüber den westlichen Sanktionen: Wir können uns selbst versorgen! Wir brauchen das Ausland nicht, sondern können es vielmehr beliefern.
Manager Guschtschin, ein zupackender Mann mit feiner Ironie, kann darüber nur müde lächeln: „Das Finanzsystem ist im Moment nicht in der Lage, schnell das Kapital für nötige Investitionen bereitzustellen.“ Egal, ob man in Vorprodukte, Kapazitäten oder Prozesse zur Qualitätssteigerung investieren muss – der Kreditmarkt ist auch für größere Hersteller wie verriegelt.
So rächt sich jetzt, was russische Wirtschaftspolitiker über Jahre versäumt haben: den Aufbau eines global wettbewerbsfähigen Wirtschaftssystems mit Rechtssicherheit, Investitionsschutz und stabiler Währung. Eines Systems, das dank einer diversifizierten Exportstruktur auch in Zeiten niedriger Öl- und Gaspreise nicht sofort in die Krise schlittert, weil es Kapital von außen anzieht, in konjunkturell guten wie in schlechten Zeiten. Diese Modernisierung hatte Ex-Präsident Dmitri Medwedew versprochen und Putin nie eingehalten – zum Ärger der Unternehmer.
Synthetische Textilien
Dennoch plant Guschtschin den Bau einer Fabrik für synthetische Textilien, die umgerechnet mehr als 200 Millionen Euro kosten soll. Ob er wie gehofft im Sommer starten kann, ist ungewiss. Denn bei der Finanzierung ist er auf ein Konsortium europäischer Banken angewiesen. Welche das sind und ob sie an Bord bleiben, verrät der Unternehmer nicht.
Künftig will er zum Beispiel effiziente Dämmstoffe herstellen und feuerabweisende Materialien für Arbeiter von Bohrinseln. „Technische Textilien bieten uns ein riesiges Potenzial, das auch das Überleben des klassischen Segments der Heimtextilien sichert“, verspricht der Manager, der auch Vize-Präsident der Union der Textilunternehmer und der Leichtindustrie ist. Von seinen 1000 Mitarbeitern in der Produktion hat er bislang noch niemanden entlassen müssen: Die seien nicht leicht zu ersetzen. Noch hofft er darauf, dass sich die Gesamtlage entspannt, befürchtet aber: „Ein positives Szenario wird es für 2015 nicht geben.“
Bräute sieht man heute wenige im Straßenbild von Iwanowo – wer etwas auf sich hält, heiratet lieber in Moskau. Die Textilmanager Guschtschin und Kusnezow wollen die Hoffnung nicht aufgeben: Bislang haben sie noch jede Krise überstanden.