Trutzburg Aleppo „Hörst Du das Sirren? Das sind die Scharfschützen“

Aleppo im Norden Syriens ist eingekesselt, Fluchtkorridore der Russen sollten den Hunderttausenden Eingeschlossenen die Flucht ermöglichen. Doch die Menschen fragen sich: Gibt es sie wirklich? Und sind sie sicher?

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In diesem Krieg ist auch für die Menschen vor Ort unklar, welche Informationen stimmen und welche nicht. Sind die Fluchtkorridore sicher? Quelle: AP

Damaskus Schwarze Schwaden ziehen über die Zitadelle von Aleppo hinweg, die sich auf einem kleinen Hügel mitten aus dem betongrau der sie umringenden Stadt erhebt. Wie von kleinen Inseln steigt der dichte Rauch aus dem Ostteil der ehemaligen Handelsmetropole Syriens auf. Alle paar hundert Meter haben Bewohner Müll und Autoreifen auf die Straßen geworfen. Videos im Internet zeigen Kinder, die neues Brennmaterial heranschleppen. Ein Schleier liegt über den belagerten und von Rebellen gehaltenen Vierteln Aleppos.

„Hörst Du das Sirren?“, fragt Kenan, als er in seinen Laptop spricht. „Das sind die Scharfschützen.“ Dann dreht er den Computer. Die Kamera zeigt eine menschenleere Straße, Geröllberge und Schutt. Es ist die Nachbarschaft von Kenan, der in Aleppo wohnt und nicht mit vollem Namen genannt werden möchte.

Das Viertel Salaheddin liegt unweit der Zitadelle genau an der Frontlinie. „Die humanitären Korridore sind eine Lüge“, sagt Kenan. Dort, wo nur Betonbrocken zwischen Hausgerippen liegen, soll einer der Fluchtwege sein, die die syrische Führung zusammen mit seinem Verbündeten Russland eingerichtet haben will. Nach russischen Angaben sollen mehr als 400 Menschen bereits das Fluchtangebot angenommen haben. „Diese Initiative ist eine reine Lüge“, sagt Kenan.

Aleppo, diese ehemals wichtige Handelsmetropole im Norden Syriens, ist ein Sinnbild für den Bürgerkrieg im Land. Verschiedenste Rebellengruppen, von moderaten Aufständischen bis hin zu Dschihadisten mit Verbindungen zum Terrornetzwerk Al-Kaida, kämpfen in den Vierteln der Stadt gegen Machthaber Baschar al-Assad und seine Verbündeten. Hunderttausende Zivilisten sind dem Bombardement und den Kämpfen ausgeliefert.

Die Stadt steht seit 2012 fast unter täglichem Beschuss durch Artillerie, Luftangriffe und international geächtete Fassbomben. Viel ist nicht mehr übrig von der Schönheit der Stadt, die aufgeteilt ist zwischen den Regierungstruppen im Westen und den Rebellen im Osten.

Vor gut zwei Wochen kappte das syrische Militär die letzte Versorgungsroute der Aufständischen. Seitdem sind nach Uno-Schätzungen fast 300´.000 Menschen von der Außenwelt abgeschnitten. Internationale Hilfsorganisationen befürchten eine humanitäre Katastrophe. Die US-Regierung fordert von Syrien und Russland, die Angriffe einzustellen und fordert eine humanitäre Lösung. US-Außenminister John Kerry sagte: „im Wesentlichen unsere Geduld ist nicht unendlich“.


Mit brennenden Reifen gegen Luftangriffe

„Wir haben nichts mehr zu verlieren“, sagt der 60-jährige Abu Sakaria, dessen zwei Söhne bei den Rebellen kämpfen. „Das Regime versucht mit allen Mitteln, dass wir aufgeben. Und wenn sie uns hier verhungern lassen.“

„Die Menschen leben von dem, was sie gehortet haben“, erzählt der 32-jährige Abdullah. „Einige haben noch Reis und Bulgur, auf dem Markt kann man noch Minze und Petersilie kaufen, weil das in der Stadt angebaut wurde.“ Andere Familien berichten von Brotrationen, die sich die Kinder teilen, um immer etwas für noch schlechtere Zeiten zurückzulegen.

Dennoch will Abdullah die Stadt nicht verlassen. Er habe überlegt, ob er seine Frau und die drei Kinder aus der Stadt schaffen solle. Ihm sei aber gesagt worden, dass die Scharfschützen des Regimes die Korridore im Blick hielten.

In dem Krieg ist auch für die Menschen vor Ort unklar, welche Informationen stimmen und welche nicht. „Das Risiko will ich nicht eingehen“, sagt Abdullah. „Ich habe Hoffnungen, dass die Offensive von Dschaisch al-Fatah funktioniert.“ Es ist ein Bündnis verschiedener Islamistengruppen, die versuchen, den Ring der Belagerung durch die offizielle Armee zu sprengen. Auf die moderaten Rebellen hoffen derzeit nur noch wenige.

Der Direktor des Zentrums für Nahost-Studien an der Universität von Oklahoma, Joshua Landis, hält den Ausgang der Kämpfe in Aleppo auch zentral für den weiteren Verlauf des Krieges in ganz Syrien. „Die Rückeroberung von Aleppo passt in Assads Strategie um ein „nützliches Syrien“ zu halten.“ Damit sei die Kontrolle über die vier größten Städte des Landes gemeint: Damaskus, Aleppo, Homs und Hama, in denen mehr als die Hälfte der syrischen Bevölkerung lebt.

„Die Ober- und Mittelschicht lebt in den Städten“, analysierte Landis kürzlich auf seiner Webseite. „Wenn die Aufstände auf die ländlichen Regionen verschoben und begrenzt werden, hätte Damaskus einen strategischen und moralischen Sieg eingefahren.“

Doch noch halten die Rebellen den Ostteil Aleppos und angesichts der Ausweglosigkeit ihrer Situation stemmen sich Bewohner und Rebellengruppen mit allem, was sie haben, gegen eine Niederlage. Mit brennenden Reifen gegen die Luftangriffe, mit hochmotivierten und kampferprobten islamistischen Gruppierungen gegen die Belagerung.

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