TTIP im Faktencheck Wundermittel für Wachstum – oder Büchse der Pandora?

Die Pläne für eine riesige transatlantische Freihandelszone erhitzen die Gemüter, vor allem in der EU. Zum Obama-Besuch Ende April in Hannover sind neue Massenproteste geplant. Ist der Widerstand berechtigt?

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Gegner des Freihandelsabkommens TTIP haben zu Massenprotesten am 23. April aufgerufen. Quelle: dpa

Brüssel TTIP-Gegner haben zu Massenprotesten gegen das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP aufgerufen. US-Präsident Barack Obama soll mit einer großen Demonstration empfangen werden, wenn er Ende April nach Deutschland kommt, um die weltgrößte Industriemesse in Hannover zu besuchen. Ist der Widerstand gegen das Prestigeprojekt, über das seit Mitte 2013 verhandelt wird, gerechtfertigt? Eine Analyse häufiger Argumente für und gegen TTIP.

1. Freihandel schafft mehr Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand.

Eine für das Bundeswirtschaftsministerium angefertigte Studie des Ifo-Instituts kommt zu dem Ergebnis, dass das reale Einkommen in Deutschland durch TTIP langfristig um etwa 4,7 Prozent steigen würde. Zudem seien allein in der Bundesrepublik 110.000 neue Jobs zu erwarten. Eine Untersuchung im Auftrag der EU-Kommission ergab, dass TTIP in der EU innerhalb von zehn Jahren zu einem zusätzlichen Wirtschaftswachstum von 0,5 Prozent führen würde und dass jede vierköpfige Familie pro Jahr 445 Euro zusätzlich zur Verfügung hätte.

Kritische Forscher verweisen jedoch darauf, dass das Extra-Wachstum auf ein Jahr heruntergerechnet nur ein Plus von 0,05 Prozentpunkten bedeuten würde. Auch wird angemerkt, dass durch den leichteren Marktzugang für US-Anbieter der Wettbewerb auf inländischen Märkten steigen dürfte. Indirekte Folgen könnten also Umsatzeinbußen und Beschäftigungsabbau in weniger wettbewerbsfähigen Branchen sein.

2. TTIP wird Standards im Umwelt- und Verbraucherschutz aushöhlen.

Die Aushöhlung von Standards im Umwelt- und Verbraucherschutz ist einer der Hauptkritikpunkte der Gegner. Pauschal haltbar ist das Argument nicht: Meist werden Standards nach oben angepasst. Dafür sorgt auch Druck von Umwelt- und Verbraucherschutz-Organisationen. So hat die EU bereits ausgeschlossen, das bestehende Verbot von Hormon- oder Chlorhühnerfleisch aufzuheben. Und die USA dürften kaum ihre deutlich strengeren Fahrzeug-Grenzwerte zum Ausstoß von Stickoxiden (NOx) absenken, die VW im Abgas-Skandal manipuliert hatte.

Stattdessen geht es darum, unterschiedliche Standards gegenseitig anzuerkennen, wenn sie ein vergleichbares Sicherheitsniveau bieten. Das ist zum Beispiel bei Fahrzeugteilen wie Türschlössern, Bremsen, Sicherheitsgurten oder Lichtanlagen der Fall. So sind Autoblinker in der EU in der Regel gelb, in den USA rot – diese Doppelung ist teuer.

Unklar ist bislang, ob das sogenannte Vorsorgeprinzip der EU in TTIP verankert werden kann. Mit ihm wird eine schnelle Reaktion auf mögliche Gesundheits- und Umweltgefahren ermöglicht. So können Produkte vorsorglich vom Markt genommen werden – auch dann, wenn verfügbare wissenschaftliche Daten noch keine umfassende Bewertung des Risikos zulassen. In den USA kann ein Stoff so lange verwendet werden, bis eine von ihm ausgehende Gefahr nachgewiesen ist. Dafür drohen Unternehmen viel höhere Strafen, wenn ihnen ein sorgloser Umgang mit der Gesundheit der Verbraucher nachgewiesen werden kann.


Wächst die Kluft zwischen Arm und Reich?

3. Freihandel sorgt dafür, dass Verbraucher günstig einkaufen können.

Wissenschaftler des Ifo-Instituts und des Centre for Economic Policy Research (CEPR) gehen davon aus, dass die Abschaffung von Zöllen und unterschiedlichen Standards zu geringeren Preisen führt. Nach Angaben des deutschen Autoverbands VDA müssen europäische Hersteller derzeit Reifen, Außenspiegel und Stoßfänger doppelt bauen oder testen lassen, wenn sie ein Auto auch in den USA verkaufen wollen. Experten haben demnach berechnet, dass die bestehenden Doppelregulierungen und bürokratischen Hürden einem Zoll von 26 Prozent entsprechen.

Kleine und mittelständische Firmen könnten profitieren, weil der Exportmarkt USA besser zugänglich wird – etwa durch Anerkennung vergleichbarer Produktzertifizierungen. Ob alle Einsparungen an den Verbraucher weitergegeben werden, ist aber nicht sicher. Sie könnten auch in Forschung investiert werden oder in die Gewinne fließen.

4. TTIP vergrößert weltweit die Kluft zwischen Reich und Arm.

Geringere Handelskosten würden Unternehmen aus den USA und der EU wettbewerbsfähiger machen. Dies könnte dazu führen, dass sie Betriebe aus Schwellen- und Entwicklungsländern aus dem Geschäft drängen. Die Ifo-Studie für das Bundeswirtschaftsministerium geht davon aus, dass durch TTIP im Rest der Welt 240.000 Jobs verloren gehen.

Viele Forscher und Politiker verweisen allerdings auch darauf, dass hohe Umwelt- und Verbraucherschutz-Standards mithilfe von TTIP zu globalen Normen werden könnten - mit der Folge, dass auch Menschen in anderen Ländern davon profitieren. „Macht Euch nichts vor. Irgendjemand wird die Regeln für die Globalisierung schreiben“, sagt EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström an die Adresse der TTIP-Gegner. Sie setze sich dafür ein, dass die EU dies tue und somit hohe Standards und Werte erhalte.

Kritische Stimmen aus der Wissenschaft befürchten aber, dass Nutznießer freier Märkte zum Teil wenig Interesse daran zeigen könnten, sich auf globaler Ebene für eine echte Liberalisierung des weltweiten Handels einzusetzen.


Fast alle internationalen Abkommen sind intransparent

5. Unternehmen können über Sonderklagerechte Gesetze aushebeln.

Schiedsgerichte selbst sind nicht in der Lage, Gesetze zu kippen oder zu verändern. Theoretisch können sie aber Unternehmen Schadenersatz zusprechen, wenn sich herausstellt, dass diese ungerechtfertigt unter politischen Entscheidungen leiden. Kritiker glauben, dass Firmen mit der Androhung einer Klage Gesetze verhindern oder verwässern können – und fordern deswegen eine Abschaffung der privaten Institutionen.

EU-Handelskommissarin Malmström hat mittlerweile eine umfangreiche Reform des aktuellen Schiedsgerichtssystems vorgeschlagen, die auch von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) befürwortet wird. Die US-Seite ist allerdings skeptisch: „Für uns ist es wichtig, dass in einem ambitionierten Abkommen auch die Interessen von Investoren angemessen berücksichtigt werden“, sagt der US-Handelsbeauftragte Michael Froman und macht dabei immer wieder klar, dass es aus Sicht der amerikanischen Regierung eigentlich keinen Grund gibt, das aktuelle System zu verändern.

6. Die Verhandlungen über TTIP sind undemokratisch und intransparent.

Dass die Verhandlungen nicht besonders transparent sind, ist richtig. Das gilt aber für so gut wie alle Spitzengespräche über internationale Abkommen. Gleichzeitig ist es auch richtig, dass mittlerweile viel mehr Dokumente öffentlich gemacht werden als noch zu Beginn der Verhandlungen. Und am Ende muss die EU-Kommission ein Ergebnis vorlegen, dass mehrheitsfähig ist. Wenn das EU-Parlament und die Regierungen in den EU-Mitgliedstaaten ihm nicht zustimmen, wird es kein Freihandelsabkommen mit den USA geben. Zudem gilt es als sicher, dass TTIP auch dem Bundestag zur Abstimmung vorgelegt wird.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%