Türkei Erdoğans groteskes Wirtschaftsdenken

Seite 2/3

Eine Welt ohne Zinsen

Was also steckt wirklich hinter dieser türkischen Zins- und Inflationstheorie? Um Erdoğans Abneigung gegen hohe Zinsen zu verstehen, muss man in die türkische Geschichte eintauchen.
Als geistiger Vater Erdoğans gilt Necmettin Erbakan. Der Vorsitzende der islamistischen Wohlfahrtspartei studierte in Deutschland Maschinenbau und errang in den Neunzigerjahren einige beachtliche Wahlsiege. Erdoğan avancierte 1984 zum stellvertretenden Vorsitzenden der Refah-Partei. Er war damals gerade 30 Jahre alt.

Das Wirtschaftsprogramm Erbakans, das eine Art „Dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus beschrieb, fand vor allem bei armen, gläubigen Wählern Anklang. Erbakan nannte es „Adil Ekonomik Düzen“ – „gerechte Wirtschaftsordnung“.

Demnach sollten nahezu der gesamte Boden und fast alle Banken verstaatlicht werden. Die einzige Steuer würde auf Einkommen per 20-prozentiger Flat Tax erhoben. Preise würden recht marktwirtschaftlich durch Angebot und Nachfrage, entstehen, aber in allen Städten des Landes gleich sein. Und entscheidend: Zinsen gäbe es nicht – so wie der Koran es verlangt.

Entwicklung der türkischen Inflationsrate 2018

Das Programm wurde freilich nie umgesetzt. Unter Druck des kemalistischen Militärs trat Erbakan 1997 zurück. Die Partei wurde aufgelöst. Aus der Refah-Partei ging später die AKP hervor, deren Vorsitzender Erdoğan seit 2001 mit Unterbrechung ist. 2002 gewann die AKP die Parlamentswahlen und stellt seitdem die Regierung. Mit Folgen für die Wirtschaft: Die wuchs bis 2015 mit immerhin durchschnittlich sieben Prozent im Jahr.
Abdurrahman Kaan herrscht über ein Imperium aus Milch und Käse. Sein Büro liegt im Großmarktviertel Istanbuls, von wo aus permanent Kleinlaster die 16-Millionen-Stadt mit Oliven, Käse, Ayran und anderen Lebensmitteln versorgen.

Das Familienunternehmen Kaanlar ist der drittgrößte Produzent von Milchprodukten in der Türkei – mit einem Umsatz von umgerechnet weit über 100 Millionen Euro im Jahr. Der 53-Jährige ist auch Vorsitzender des Unternehmerverbands Müsiad. Die Vereinigung wurde 1990 unter dem Einfluss von Erbakans Gedankengut gegründet und vertritt islamisch-konservative Kleinbetriebe.

Der Verband fiel immer wieder mit Verschwörungstheorien auf. „Zinsen öffnen das Tor zur Ausbeutung“, sagt Kaan. Deswegen hätten islamische Banken die türkische Wirtschaftskrise um die Jahrtausendwende und die globale Finanzkrise 2008 besser als andere überstanden. „Deshalb vergeben wir als Verband zinslose Darlehen an unsere Mitglieder.“ 

Die Ursache der Inflation sehen Kaan und sein Präsident nicht in zu niedrigen Leitzinsen, sondern in der Bevölkerungszunahme, dem höheren Konsum, steigenden Immobilienpreisen – und in zu hohen Zinsen. Erdoğan versuche zwar dagegen anzukämpfen, doch es gelinge ihm nicht immer.

Der Präsident habe „zwar viel von Erbakan übernommen“, sagt Faruk Şen, Leiter der Türkisch-Europäischen Stiftung für Bildung und Wissenschaftliche Forschung, ein „anderer wichtiger Einflussgeber für den Präsidenten aber war Kemal Derviş“.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%