Türkei-Einmarsch in Syrien Erdogans Dilemma

Aufnahmen zeigen, wie türkische Truppen in der vergangenen Nacht in einen weiteren Teil Syriens eindringen wollten. Das syrische Militär soll Warnschüsse abgegeben haben. Der Vorfall zeigt Erdogans Dilemma.

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FILE - In this Monday, Dec. 11, 2017 file photo, Turkey's President Recep Tayyip Erdogan, right, shakes hands with Russia's President Vladimir Putin, left, following their joint news statement after their meeting at the Presidential Palace in Ankara, Turkey. NATO-member Turkey has finalized a deal with Moscow to purchase a Russian-made anti-missile system. Under the deal announced by Turkish defense officials on Friday, Dec. 29, 2017. Turkey would buy at least one S-400 surface-to-air missile battery with the option of procuring a second battery. The deal would make Turkey the first NATO member to own Russia’s most advanced air defense system and, comes amid Ankara’s deteriorating relations with the United States and other western countries. (AP Photo/Burhan Ozbilici, File) Quelle: AP

Istanbul Türkische Medien lieben Erfolgsmeldungen, vor allem über das eigene Militär. Und so schreiben die Autorinnen und Autoren der großen türkischen Medienhäuser am Dienstag, dass die aktuelle „Operation Olivenzweig“ der türkischen Streitkräfte in Nordsyrien nach Plan verläuft. 649 Kämpfer der Miliz YPG seien in der Kampfzone in der Region Afrin inzwischen „neutralisiert“ worden. Was bislang verschwiegen wird: Das türkische Militär wollte die Kampfzone offenbar ausweiten. Auf einen Bereich, der heiß umkämpft ist, nämlich die Region Idlib.

Syrische Streitkräfte hinderten die türkischen Panzer womöglich daran, weiter in den Bereich im Westen Syriens einzudringen. Videoaufnahme aus sozialen Medien zeigen, wie türkische Panzer in der Nacht auf einer Landstraße ins Landesinnere vorstoßen. Daraufhin hätten russische und syrische Kampfjets Warnschüsse abgegeben, die den türkischen Konvoi nur um zwei Kilometer verfehlt hätten. „Die große Frage ist, ob die Türken ihr Vorgehen mit Moskau abgesprochen haben oder trotzdem vordringen“, fasst die für gewöhnlich gut informierte arabische Reporterin Jenan Moussa den Vorgang zusammen.

Idlib liegt gleich südlich der Region Afrin, in die das türkische Militär vor über einer Woche einmarschiert war, und gehört zu den letzten Bastionen der Opposition in Syrien. Russland hatte die Region Idlib in den vergangenen Tagen immer wieder bombardieren lassen. Dutzende Zivilisten sollen bei den Luftschlägen ums Leben gekommen sein. Eine offizielle Bestätigung für den zweiten Einmarsch der Türken gibt es nicht. Quellen aus der türkischen Hauptstadt Ankara berichten, die Türkei habe eigentlich einen Sicherheitsposten in Idlib errichten wollen.

Der Vorfall deutet ein Dilemma an, in dem sich die türkische Führung um Staatschef Erdogan derzeit befindet. Zu Beginn des Syrienkriegs distanzierte sich Ankara deutlich vom syrischen Machthaber Assad; in der Hoffnung, der Diktator aus Damaskus würde früher oder später von Rebellen abgesetzt werden. Auf der anderen Seite arbeitet Erdogan wieder eng mit Russlands Staatschef Putin zusammen. Und der stützt und unterstützt offen die syrische Führung in Damaskus.

Eine Dreiecksbeziehung, in der Erdogan sich verbiegen muss, damit er weiter einen Platz darin einnehmen darf. Gleichzeitig verfolgt die Türkei in Syrien nämlich nationale Sicherheitsinteressen. Kurdische Milizen der YPG, die sich in Nordsyrien verschanzen, haben in den vergangenen Jahren zahlreiche Anschläge in der Türkei verübt. Hunderte Menschen wurden dabei getötet.

Jetzt scheint Assad fester im Sattel denn je. Und Erdogan hat ein Problem: Seine Furcht vor Terror im eigenen Land kollidiert mit seiner Doktrin, Assad absetzen zu wollen. „In der Türkei glauben mittlerweile viele, dass es falsch war, schon am Anfang der Syrienkrise alle Brücken nach Damaskus abzubrechen“, erklärt der türkische Kolumnist Semih Idiz von der Tageszeitung Hürriyet.

Einer der Skeptiker: Kemal Kilicdaroglu. Der Chef der größten Oppositionspartei CHP forderte am Wochenende, die türkische Regierung müsse Verhandlungen mit Assad aufnehmen. Kilicdaroglu unterstützt zwar – wie ein Großteil der türkischen Bevölkerung – die türkische Militäroperation in Afrin. Er kritisierte aber, dass die Türkei sich damit auf die „gefährliche Spirale im Mittleren Osten“ einlasse, wenn sie nicht mit Assad verhandle.

Er ging sogar noch einen Schritt weiter: Bei einem Mediengespräch kündigte der türkische Oppositionsführer an, nach Damaskus zu reisen, um die angeschlagenen Beziehungen zwischen beiden Ländern zu verbessern. „Wir evaluieren derzeit einen möglichen Besuch in Damaskus“, ließ Kilicdaroglu verlauten. Zuvor hatte seine Partei bereits hochrangige Treffen mit der Führung in Irak und Ägypten arrangiert – zwei Länder, mit denen die Türkei in der jüngeren Vergangenheit ebenfalls ihre Probleme hatte.

Der Oppositionsführer will damit die Führung in Ankara vor sich hertreiben. Erdogan will stattdessen den Fokus weiter auf die aktive Militäroperation „Olivenzweig“ richten. Am Dienstag wurde bekannt, dass die Polizei elf Spitzenvertreter des Ärzteverbands festgenommen hat. Wie die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, war unter den Festgenommenen auch der TTB-Chef Rasit Tükel. Die Staatsanwaltschaft hatte am Montag Ermittlungen gegen den Verband eingeleitet, nachdem er gewarnt hatte, dass Krieg zu „irreparablen Problemen“ führe.

Erdogan wird sich in Zukunft entscheiden müssen: Ganz oder gar nicht. Wenn er weiter mit Putin zusammenarbeiten will, muss er wohl oder übel auch Assad akzeptieren. Der Kreml hat bereits klargemacht, dass er Ankaras Ansichten bezüglich Assad nicht teilt. Der syrische Staatschef durfte den türkischen Militäreinsatz sogar öffentlich verurteilen, obwohl die Russen ihm zuvor zugestimmt hatten. „Sowohl Assad als auch die Kurdenmiliz YPG haben nun ein gemeinsames Interesse“, fasst Hürriyet-Kolumnist Idiz zusammen, „nämlich Erdogan zu schwächen“.

Sollte Russland diesen Schachzug billigen, würde das Erdogan in die nächste Zwickmühle befördern. Er müsste dann in den kommenden Tagen eingestehen, dass seine Regierung Gespräche mit Assad aufnehmen wird. Es wäre allerdings nicht das erste Mal, dass der türkische Staatschef seine Prinzipien opfert, um andere Ziele zu erreichen.

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