Türkei Erdoğan demontiert die Demokratie

Mit den Verhaftungen der Parteispitze der HDP hat Präsident Erdoğan erneut eine Grenze überschritten. Die wirtschaftlichen Konsequenzen scheinen ihn ebenso wenig zu interessieren wie die Reaktionen des Auslands.

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Erdoğan und die Türkei driften in die Isolation. Quelle: AP

Bis Freitagnacht hätte man es gut meinen können mit Erdoğan und der Türkei. Man hätte annehmen können, dass die über 100.000 verhafteten Lehrer, Beamten und Soldaten vielleicht tatsächlich Teil einer groß angelegten Verschwörung der Gülen-Bewegung sind. Man hätte annehmen können, dass die 14 Journalisten der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet bald wieder freikommen, und man hätte vermuten können, dass die Drohung des Präsidenten, die Todesstrafe wiedereinzuführen, zwar populistisches Getrommel ist, aber nicht weiter ernstgemeint. Man hätte meinen können, die Behauptung "Erdoğan schaffe die Demokratie ab", sei übertriebenes Geschrei seiner politischen Gegner. Und man hätte glauben können, der Ausnahmezustand würde im Januar beendet und die Türkei kehre zu politischer Normalität zurück.

Seit Freitagnacht aber ist das kaum mehr möglich. Elf Abgeordnete der prokurdischen Partei HDP wurden verhaftet. Der Vorwurf: Sie hätten sich an terroristischer Propaganda beteiligt. Zuvor hatte man sich eifrig darum bemüht, deren politische Immunität aufzuheben, um die Verhaftung erst möglich zu machen. Die linksliberale HDP ist die drittstärkste Fraktion im türkischen Parlament - und mit der zweitstärksten Partei CHP ein Gegner des Präsidialsystems, das Erdoğan einführen möchte.

Die HDP war einst die Hoffnung nicht nur der Kurden, sondern auch vieler türkischer Linksliberaler in Istanbul und anderen großen Städten. Ihr charismatischer Anführer Selahattin Demirtaş, auch genannt der "kurdische Obama" machte sie für viele Schichten wählbar.

Seit Freitagnacht waren auch sämtliche sozialen Netzwerke gesperrt: Facebook, Twitter und sogar harmlose Seiten wie Instagram und Youtube. Sogar der Kurznachrichtendienst Whatsapp war bis Freitagmittag nicht erreichbar. Sperrungen sozialer Netzwerke gab es schon öfter - auch nach den Anschlägen auf den Atatürk-Flughafen im Juni und dem gescheiterten Putschversuch waren viele Seiten vorübergehend nicht erreichbar. Dass aber sogar der Kurznachrichtendienst Whatsapp gesperrt wurde, ist neu. Im Südosten soll so sogar das Internet komplett abgeschaltet gewesen sein.

Möglich ist, dass Erdoğan nach einer Ausschaltung der HDP Neuwahlen ausruft, uu die nötige Stimmenmehrheit für eine Einführung des Präsidialsystem zu erhalten. Dieses Ziel will er im kommenden Jahr erreichen.

Der Preis dafür ist hoch. Er besteht in einer zunehmende Spaltung der türkischen Gesellschaft. In den ersten Tagen nach dem gescheiterten Putsch bestand noch die Chance, die aufgerissenen Gräben zu überwinden, und eine nationale Versöhnung einzuleiten. Opposition und Regierung waren sich einig in ihrer Ablehnung der Gülen-Bewegung und eines Militärputsches.

Doch davon ist nicht mehr viel übrig: Sogar die kemalistische Oppositionspartei CHP, die bisher weitgehend das Vorgehen gegen die vermeintlichen Gülen-Verschwörer deckte, spricht jetzt von einem "zweiten Coup", die HDP gar von "politischer Lynchjustiz".

Die Türkei isoliert sich

Die Reaktion in den kurdisch besiedelten Gebieten erfolgte prompt. In den Morgenstunden explodierte eine Autobombe vor einer Polizeistation in der südosttürkischen Stadt Diyarbakir. Letzter Stand: Acht Tote und über 100 Verletzte.

Während seine Anhänger in Erdoğan den starken Mann sehen, breitet sich bei seinen Gegnern Resignation aus. Interviews zu bekommen, ist schwierig geworden - kaum jemand traut sich mehr, sich mit seinem Namen kritisch zu äußern.

Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis

Wirtschaftlich wird der Schaden immer spürbarer: Die Lira fällt - zwar langsam, aber stetig. Ein Euro ist jetzt knapp 3,5 türkische Lira wert. 2012 waren es noch 2,5 Lira. Auch der türkische Leitindex notierte am Freitagmittag mit 2,5 Prozent im Minus.

Für die Investitionsentscheidungen großer Dax-Konzerne sind die aktuellen Entwicklungen nicht ausschlaggebend. Wohl aber überlegen sich Mittelständler und kleinere Unternehmen, ob sie in ein Land investieren wollen, dass Gefahr läuft, gerade in eine Diktatur umgebaut zu werden.

Helena Schönbaum ist Vorsitzende des Business-Networks Antalya und hat den Tourismus im Blick. Sie ist besorgt über die Entwicklungen - nicht für deutsche Touristikunternehmen: "Die Stimmung unter den Unternehmern ist natürlich schlecht. Gerade wenn sich die Lage wieder zu beruhigen scheint, passiert wieder etwas. Die Arbeitslosigkeit liegt in manchen Regionen bei 40 Prozent. Auch das Wintergeschäft bricht weg: Letztes Jahr kamen so gut wie alle deutschen Bundesliga-Mannschaften zum Trainingslager. Für diese Saison haben alle abgesagt."

Schönbaum hat den Eindruck, dass es der türkischen Führung mittlerweile egal geworden ist, welche wirtschaftlichen Auswirkungen ihre Politik hat. "Es sieht nicht aus, als ob es besser werden würde", sagt ein Manager eines deutschen Unternehmens, namentlich genannt werden möchte er nicht.

Erdoğan kümmert sich mittlerweile weder um die Reaktionen aus dem Ausland, noch um die Konsequenzen seiner Politik im Inland. Das Land isoliert sich.

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